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Andrea Oelmann:

Welche Bedeutung hat Klavierunterricht für die musikalische Sozialisation?
Eine Untersuchung anhand einer Befragung von Klavierschülerinnen und -schülern

 

Vorbemerkung von Wolfgang Martin Stroh:

In der aktuellen musikpädagogischen Diskussion spielt das Argument eine große Rolle, daß Musikunterricht eine "große Bedeutung" für die Persönlichkeitsentwicklung habe. Unter "Musikunterricht" wird dabei neben dem Unterricht an allgemeinbildenden Schulen vor allem auch Instrumentalunterricht verstanden. - Fast unabhängig von dem Konstrukt "Persönlichkeitsentwicklung" kennt die Jugendsoziologie das Phänomen "musikalische Sozialisation". Es ist unumstritten, daß diese Sozialisation ebenfalls etwas mit der Persönlichkeitsentwicklung zu tun hat. Stillschweigend wird als eine wichtige musikalische Sozialisationsinstanz der Musikunterricht - so er stattfindet - genannt. Doch ist dem so? Laufen nicht die "musikalische Sozialisation" und "Musikunterricht" relativ unvermittelt nebeneinander her? Leistet also, mit anderen Worten, der Musikunterricht tatsächlich einen Beitrag zur Sozialisation?

In einer empirischen Untersuchung fragt Andrea Oelmann nach der Bedeutung des Klavierunterrichts für die musikalische Sozialisation. Sie untersucht also genau jenen Punkt, über den die Musikpädagogik oft und gerne Stillschweigen bewahrt.

Der Untersuchung liegt der Identitätsbegriff nach Erikson zugrunde. Die Befragung basiert auf den Sozialisationsmodellen von Dollase, Rüsenberg und Stollwerk ("Demoskopie im Konzertsaal", 1986) und Pape und Pickert ("Perspektiven musikalischer Sozialisation", Peter Lang Ffm.1999). Es wurden 15 Jugendliche im Alter zwischen 10 und 16 Jahren befragt, die Klavierunterricht nehmen. Die qualitative Befragung benutzte einen Fragebogen zu "Daten zur Sozialisation" (musizierende Familie, Einstiegsalter, Lieblingsmusik etc.) sowie einen Interviewleitfaden.

Die Fragen sollten Auskunft geben über Identifikation mit dem Instrument, zum "musikalischen Umfeld" (erstes Musikerlebnis, Erlebnisse mit Vorspielen, musizierende Familie, Anerkennung durch Freunde, Vorteile in der Schule, Gruppenmusizieren mit anderen), zur "Übesituation" (Übe-Ort, -Dauer, -Kontrolle, -Zeiten). Erfragt wurden zudem "Zukunftsentwürfe" und Wunschinstrumente sowie das Verhältnis von "emotionalem" Musikhören und eigenem Klavierspielen.

Obgleich die befragten Klavierschülerinnen und -schüler eher zu den "zufriedenen" und "angepassten" zählten, ist doch auffallend, daß die meisten zwischen Hörpräferenzen und der im Klavierunterricht gespielten Musik genau unterscheiden. Beim Hören steht der Rock/Pop-Bereich ganz vorne, bei den "Lieblingsstücken am Klavier" halten sich Klassik und Pop die Waage und bei den tatsächlich gespielten Stücken dominiert "Klassik". Während das alltägliche Hören von Musik eher der Privatsphäre angehört, ist Klavierspielen - aufgrund des Standortes des Klaviers, der öffentlichen erwachsenen Kontrolle, der Lautstärke etc. - eher nicht-privat. Dennoch nutzen einige Jugendliche auch ihr eigenes Klavierspiel, um Emotionen zu verarbeiten, wobei sie dabei selten die im Klavierunterricht gelernten Stücke verwenden. Mehr als die Hälfte der Befragten möchte gerne ein weiteres Musikinstrument spielen, allen voran Gitarre und Saxophon. Dennoch haben die meisten den Wunsch und die Vorstellung, dass das Klavier auch "in Zukunft" ein Hobby bleiben soll und wird. Profi-Absichten oder Künstler-Phantasien gibt es kaum. (Insofern sind die vorliegenden Jugendlichen nicht mit den von Bastian befragten und in den vergangenen Jahren stets zitierten "Jugend-musiziert"-PreisträgerInnen vergleichbar.)

Insgesamt ergibt sich das ansatzweise bekannte Bild, wonach der Klavierunterricht den Sozialisationsbedürfnissen der Jugendlichen nicht voll gerecht wird. Wenn er einen Nutzen hat, so dadurch, dass technische Aspekte auf das "wirkliche Leben" übertragbar sind. Die im Klavierunterricht erarbeitete und praktizierte Musik jedoch ist im Leben der Jugendlichen nach wie vor ein relativer Fremdkörper. Dies kann als "Bereicherung" des jugendlichen Lebens oder als Manko des Klavierunterrichts betrachtet werden. Sicher ist jedoch, dass der Klavierunterricht ein Sozialisationsfaktor ist, der einen Teil der Grundlage darstellen kann, auf der weitere Entwicklungen, Wechselwirkungen und Einstellungen gegenüber Musik und Instrumentalspiel stattfinden können.

Anfragen zu weiteren Details an Andrea Oelmann: andrea.oelmann@mail.uni-oldenburg.de