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Silke Terfehr

Musiktherapie auf der Stations für Schwerst-Schädel-Hirn-Geschädigte am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg

Dies ist die erste empirische Untersuchung zur Bedeutung von Musiktherapie auf der im Titel genannten Station. Die Koordinaten der Untersuchung sind erstens der theoretische Ansatz zum "Dialogaufbau" des leitenden Arztes Dr. Andreas Zieger; zweitens einige Verfahren, die Dagmar Gustorff mit Koma-Patienten in München durchgeführt hat, und drittens die speziellen Verfahren der an der Station tätigen Musiktherapeutin Karin Böseler. Methodisch wird erstmals die von Andreas Zieger entwickelte SEKS ("Skala Expressive Kommunikation und Selbstaktualisierung") eingesetzt. Es handelt sich hier um eine Skala zur Messung beobachtbarer "Signale" der Patienten. In Protokollen werden 4 bis 6 Musiktherapiesitzungen mit 5 Patienten aufgezeichnet und auf der SEKS registriert. Die Gesamtwerte der SKES (= Anzahl der beobachteten "Signale") vor-, während und nach den Musiktherapiestunden werden ermittelt und "ad hoc" interpretiert. Die statistischen Ergebnisse werden in Abhängigkeit der jeweiligen Therapieziele, der eingesetzten musikalischen Mittel und der Besonderheiten des jeweiligen Patienten ausgewertet und zusammengefasst.

Zuir Musiktherapie im einzelnen: Der Katalog möglicher Ziele, die vom Betreuer-Team festgelegt wird, lautet

· Angstabbau,

· Beziehungsaufbau,

· emotionale Umstimmung,

· Entspannung,

· Kommunikationsvermögen,

· Selbstwahrnehmung,

· Selbstaktualisierung,

· Stimmungsverbesserung.

Die Therapeutin erprobt jeweils mehrere Methoden. Diese sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung:

· Atemrhythmus-Singen nach Gustorff,

· bekannte/unbekannte Lieder Singen,

· taktile Berührung, ev. Massage etc. zu Musik,

· Hören (von Lieblingsmusik, Entspannungsmusik, Klassischer Musik),

· Kalimba-Spielen (Vorspielen), Vortrommeln,

· musikalische Mitmachaktionen.

Besondere Vorsicht scheint beim Einsatz von "Lieblingsmusik" geboten. Es konnten zahlreiche Situationen und Fälle beobachtet werden, wo die Verwendung von "Lieblingsmusik", die die Musiktherapeutin aufgrund der Aussagen von Verwandten ausgewählt und eingesetzt hatte, nicht positiv stimulierend wirkte. Eine Erklärung hierfür liegt darin, dass die "Rückkehr zur Realität" für die Patienten eine schwierige, mit viel Angst verbundene Aufgabe ist und einer tiefenpsychologischen Trauma-Verarbeitung gleichkommt. In diesem Zusammenhang kann eine Verweigerung von "Realitätswahrnehmung" oder "-akzeptanz" durch den Patienten auch ein Schutzmechanismus sein. Gerade "Lieblingsmusik" kann diesen Schutzraum auf unangenehme Weise durchbrechen. Mit anderen Worten: "Lieblingsmusik" sollte nicht zum "Aufwecken" verwendet sondern erst dann eingesetzt werden, wenn der Wille, in die Realität zurückzukehren deutlich erkennbar ist.

Einen zwingenden statistischen "Beweis" der positiven Wirkung von Musik bei der Rehabilitation kann durch das vorliegende Verfahren nur ansatzweise erbracht werden. Die "Evidenzerlebnisse" erscheinen nach wie vor zwingender und überzeugender als die dürren statistischen Daten. Zudem lässt sich der Effekt des Musikeinsatzes gegenüber allen auf der Station zum Einsatz kommenden Verfahren nicht vollständig isolieren. Andererseits weisen die Daten auch nicht darauf hin, dass Musik wirkungslos und als "zu kostspielig" abzuschaffen wäre.

Die Arbeit gibt einerseits einen hervorragenden Einblick in die sorgfältige und insgesamt erfolreiche Arbeit der Station für Schwerst-Schädel-Hirnverletzte am Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Andererseits vermittelt sie einen Eindruck von den vielen konkreten Schwierigkeiten musiktherapeutischer Forschung und einem hoch interessanten Versuch, einige dieser Probleme zukunftsweisend zu lösen.

Kontakt: silke "at" terfehr.com