Blatt 10

Materialien zur "Musik und Holocaust" in der Schule

  1. Interpretationen des "Jiddisch Tango"
  2. Szenisches Spiel zum Hintergrund des "Jiddisch Tango"
  3. "Makh tsu die eygelekh" und der "Jiddisch Tango"
  4. "Dona, Dona" oder "Dos Kelbl"

Vorbereitung: Sachanalyse-Didaktische Analyse-Zielsetzungen

Die derzeit marktgängigen Unterrichtsvorschläge aus dem Umfeld "Musik, Holocaust, Schule" bauen ihre didaktische Analyse auf der Sachanalyse auf. (Urban, Everling, Mall, Rubin/Ottens - siehe Literaturverzeichnis!) Das bedeutet, dass zuerst "die Sache" auseinander gelegt, strukturiert und dargestellt wird. Dann werden Ziele als Sonntagsreden formuliert. Und sodann ein Unterricht entwickelt, der primär über die Sache informiert ("kann nichts schaden!"), so dass von den formulierten Zielen nur die Vorstufe übrigbleibt: "SchülerInnen sollen gut informiert sein..."

Obgleich die breite Kenntnis "der Sache" Voraussetzung der didaktischen Analyse ist, setzt letztere doch selbständig an, beispielsweise an den Zielen Politischer Bildung. Da kann es mit Adorno heißen "Nie wieder Auschwitz!", es kann auch einfach heissen "Anti-Rassismus", "gegen Antisemitismus", "gegen Ausländerfeindlichkeit", "für die allgemeinen Menschenrechte"! Sollen solche Ziele nicht nur Sonntagsreden sein, die auf die (bereits abgeschlossene) Sachanalyse aufgesetzt werden, so muß die Sachanalyse im Hinblick auf diese Ziele neu überarbeitet bzw. interpretiert werden. Zum Beispiel:

Sachanalyse "Musik im Holocaust" strukturiert zunächst nach Sachgebieten: Musik im Ghetto, Musik im KZ, Musik des Widerstandes, Musik zur Erinnerung an den Holocaust. Die Überarbeitung kann fragen: Warum und wozu machen Juden im Holocaust Musik? Wir erwarten Antworten einerseits von der Analyse der Musik selbst ("Welche Haltung spricht aus den Liedern?"), andererseits aus Quellen über die Funktion des Musizierens. Unter dieser Fragestellung lassen sich 4 Antworten finden, die zueinander in Beziehung gesetzt werden können:

Haltung
Holocaust wird hingenommen:
Haltung
Holocaust soll verhindert werden:
Handlungskonsequenz:
nichts zu tun...
SCHICKSAL
Ergebenheit
Holocaust = Strafe Gottes
HOFFNUNG
Rettung ist möglich
durch Mensch oder Gott?
Handlungskonsequenz:
etwas tun!
RACHE
durch Menschen
oder durch Gott
KAMPF
Widerstand
Rettung durch Menschen

Für jede der vier Haltungen (Schicksal, Hoffnung, Rache, Kampf) gibt es Liedbeispiele. Die meisten Lieder enthalten mehrere Haltungen in oft dialektischer Anordnung.

Die überarbeitete Sachanalyse geht weit über die bloß strukturierende hinaus. Sie interpretiert bereits. Die entscheidende Aussage ist: die Musik im Holocaust enthält eine oder mehrere der hier genannten Haltungen. Es ist ein Ziel, diese Vielschichtigkeit deutlich zu machen. Dabei sollen SchülerInnen erkennen, dass komplexe historische und/oder politische Phänomene nicht "vereinfacht" und nicht ein-dimensional betrachtet werden können, ohne dass Fehler gemacht werden.

Wenn Sharon beispielsweise sagt, der Holocaust habe bewiesen, dass die Juden sich, um nicht ausgelöscht zu werden, wehren müßten, und wenn Sharon daraus seine Siedlungs- und Militärpolitik ableitet und die Verletzung der Menschenrechte und UNO-Resolutionen legitimiert (denn als "Mittel gegen den Terror" ist seine Politik mit Sicherheit nicht zu gebrauchen), dann sieht er die Haltung der Juden im Holocaust einseitig: er wirft den Juden vor, im Holocaust passiv gewesen zu sein, sich nicht hinreichend gewehrt zu haben. Er reduziert das gesamte Repertoire von Haltungen auf die eine, die oben mit "SCHICKSAL" bezeichnet wurde. Würde er die Existenz der anderen Dimensionen mit berücksichtigen, so könnte er erkennen, dass der Holocaust auch eine Frage der realen Kräfteverhältnisse war und das Unrecht der Deutschen darin bestand, diese Kräfteverhältnisse menschenverachtend ausgenützt zu haben.

Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeinmdlichkeit sowie die Unfähigkeit, Konflikte anders als mit Gewalt-Mitteln zu lösen, sind entscheidend mit verursacht durch die "Überzeugungskraft" scheinbar einfacher Erklärungen komplexer Situationen. Nach dem Muster "an allem sind die Juden schuld!" oder "die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze und Frauen weg!" Ein Unterricht, in dem komplexe Phänomene nicht vereinfacht erscheinen, ist insofern anti-rassistisch, anti-antisemitisch oder ausländerfreundlich. Am Beispiel "Musik im Holocaust" kann dies exemplarisch geschehen.

Die Methode, derer sich ein solcher Unterricht bedient, verfolgt die Maxime, dass die SchülerInnen die Vielschichtigkeit von Phänomenen selbst erkennen. Sie soll verhindern, dass die SchülerInnen zu einer der vielen möglichen Interpretationen hingeführt oder überredet werden. Eine Meinung, die sich eine SchülerIn nicht selbst bildet, nützt vielleicht beim Ranking im PISA-Test, nichts jedoch in der Lebenspraxis. Daher soll der Unterrichtsstoff so ausgewählt und bearbeitet werden, dass die Vielschichtigkeit und Komplexität der Inhalte erfahrbar und diskutierbar wird.

Die folgenden Unterrichtseinheiten verfolgen alle dies Ziel. Sie entstammen meinen Materialien "Spiel Klezmer, spiel!":

  1. Interpretationen des "Jiddisch Tango"
  2. Szenisches Spiel zum Hintergrund des "Jiddisch Tango"
  3. "Makh tsu die eygelekh" und der "Jiddisch Tango"
  4. "Dona, Dona" oder "Dos Kelbl"

1. Interpretationen des „Jiddisch tango"

Das Lied „Schpil’sche mir a lidele in jiddisch" existiert auch als „Jiddisch tango". Der Text ist eine typische „Parodie", d.h. er greift die Struktur und gewisse Argumentationsmuster des ursprünglichen Liedes auf und verkehrt den Inhalt ins Gegenteil. Der Text ist voll bissiger Ironie bis hin zu einer ungewöhnlichen Art Aggressivität. Text!

Die „bissige Ironie" kann unterschiedlich musikalisch interpretiert werden.

Daniel Kempin: „yidisch-tango" aus der CD „lider fun getos un lagern" (1995)

Das Tango-Element ist vor allem durch die Geige repräsentiert, die mit einer Solo-Kadenz beginnt und im weiteren Verlauf die Melodie umspielt. Die Begleitung ist erst in der letzten Strophe „typisch Tango", zuvor eher hinterhältig abgehackt und fast unheimlich marschmäßig. Der Sänger singt durchweg sehr bissig und selbstbewusst, keinerlei Wehleidigkeit oder Weinerlichkeit. Die Steigerung der letzten Strophe ist unscheinbar, aber doch wirksam. Insgesamt ist das musikalische Element „Tango" zurückgenommen, die immanente Textaussage hingegen (fast mit dem Zeigefinger) überdeutlich. Der Jude im KZ ist hier aufmüpfig, widerborstig und – selbst dann, wenn er Musik macht – kein geduldiges Opferlamm.

Espe: „Jiddisch tango" aus der LP „Maseltow. Jiddische Lieder" (1981)

Eine eigenständige Intro-Melodie, die wenig von Tango in sich hat, wird von einem Tango-Rhythmus begleitet. Der Grund-Ton der Interpretation wird hier angeschlagen und beibehalten: wehmütig, traurig und zurückgezogen. Trotz einer gewissen Steigerung der Strophen durch Tausch und Addition der SängerInnen bleibt eine „defensive" Geste bis zum Nachspiel, das das Intro wieder aufgreift, erhalten. Der ironisch-aggressive Text hat wenig Spuren in der Interpretation hinterlassen. Das traditionelle Bild des KZ-Juden wird reproduziert: wehmütig singend und aber geduldig zur Schlachtbank geführt.

Aufwind: „Jidisch tango" von der CD „Awek di junge jorn" (1995)

Das Arrangement ist am aktuellen Tango-Sound orientiert, benutzt sogar einige Patterns des Tango Nuevo (Stil Piazzolla). Gesungen wird eine leichte Terxtvariante mit auffallend wenig „Sarkasmus". Die Zeile „Schpil, schpil" wird musikalisch aus dem Tango-Kontext herausgehoben und sehr wehmütig-innig interpretiert. Die Interpretation versucht nicht, etwas Historisches zu rekonstruieren oder eine Lehre zu vermitteln, sondern aktuellen Tango mit einer aktuellen politischen Aussage zu verbinden. Wahrscheinlich würde heute eine jiddische Kabarett-Vorführung so klingen wie „Aufwind".

Zur Durchführung des Vergleichs der Interpretationen /Fassungen:

1. Möglichkeit:

Zu jedem Tonbeispiel entwickelt eine Kleingruppe ein Standbild. Im Plenum werden die Standbilder vorgeführt, szenisch kommentiert und befragt. Auch das Musik-Stop-Standbild-Verfahren kann angewandt werden.

2. Möglichkeit:

In Kleingruppen werden izwei Standbilder einander gegenüber gestellt. Dazu werden folgende Musikbeispiele verwendet:


2. Szenisches Spiel zum Hintergrund des "Jiddisch Tango"

 Situation: Eine Kabarett-Vorführung im Ghetto von Lodz bzw. in einer Baracke eines KZ in Litauen. Es gibt 4-5 Schauspieler(innen), die einen „Jiddischen Tango" vorführen und szenisch interpretieren.

Die Klasse wird in zwei Gruppen aufgeteilt:

Gruppe 1: Einstudierung des bereits bekannten Stücks „Schpil’sche mir a lidele in jiddisch" als Tango und mit dem neuen Text (Blatt 10). Der Text kann gesprochen werden, wichtig ist der Gestus der Musik. Die Gruppe hört zunächst die beiden Versionen von Daniel Kempin und Espe an und einigt sich tendenziell auf eine Grundhaltung, die das eigene Arrangement haben soll. Dies Ergebnis teilt sie der Gruppe 2 mit, damit diese zu ihren Proben das „richtige" Playback verwenden kann.

Gruppe 2: Erarbeitung von 4 bis 6 Standbildern, die unterschiedliche Etappen des Liedes darstellen. Auch wenn Strophe und Refrain zeitlich hintereinander erklingen, ist eine Gleichzeitigkeit von zwei (oder sogar mehreren) Standbildern denkbar. Bei der Entwicklung der Bilder wird die von Gruppe 1 vorgeschlagene Musik verwendet. Zudem wird mit dem Musik-Stop-Standbild-Verfahren gearbeitet. Es gibt einen Modellierungs-Verantwortlichen, der die einzelnen Standbilder „überwacht".

 Vorführung:


3. „Makh tsu di eygelekh" und der „Jiddisch Tango" 

Unter dem programmatischen Titel „Ghetto Tango" sind Lieder aus dem „Wartime Yiddish Theater" als CD veröffentlicht worden. Reine Tangos findet man auf dieser CD nicht, das Wort „Tango" im CD-Titel ist im übertragenen Sinne gemeint. Die im Jahr 2000 veröffentlichte CD mit Adrienne Cooper und Zalmen Mlotek macht mit Liedern bekannt, die teilweise erst 1992 von Gila Flam (Tochter von Überlebenden aus dem Ghetto von Lodz) herausgebracht wurden. Im programmatischen Text dieser CD heißt es:

„In den jüdischen Ghettos von Polen und Litauen während des 2. Weltkrieges blühte inmitten von Verschleppung, Terror und Tod die Kabarett-Musik. Jüdisches Publikum scharte sich in Clubs und Theatern, um neu geschaffene jiddische Lieder zu hören, die aus der jüdischen Volksmusik, dem liturgischen Gesang, aber auch aus der europäischen Operette, dem amerikanischen Ragtime und dem argentinischen Tango schöpften. Die jüdischen Künstler gaben ihren kosmopolitischen Liedern eine lokale Note: satirisch und elegisch, politisch und persönlich, böse und herzkrank. Zusammen schufen sie etwas ganz seltenes, kaum begreifbares: Kunst am Abgrund."

Als „rare hybrid" befindet sich auf der CD das Wiegenlied „Makh tsu di eygelekh", das „auf einen Tango gesetzt" wurde, d.h. eine Tangomelodie verwendet. Es ist die einzige wirkliche Tangomelodie der Kollektion. Der Text und Gestus des Liedes, das aus dem Ghetto von Lodz stammt, entspricht eher dem, was man als „Melancholie des Ghettos" kennt. 

Der Gestus „Tango" und die Haltung „Klezmer"

Beide Tango-Lieder zeugen bei aller Unterschiedlichkeit von einigen Tango-Konnotationen, die in Deutschland vom „Schönen Gigolo" bis zu den neuen politischen Bewegungen der 80er Jahre spontan verstanden und verwendet wurden. Das „Morbide" wird im Gewande einer Untergrundstimmung in süßen Tönen besungen, ja gefeiert. Das Ziel ist, die Tiefe des Abgrunds noch deutlicher werden zu lassen und die Furcht vor einem bevorstehenden Absturz durch „Sinnenfreude" zu nehmen. Diese Konnotation hat Udo Lindenberg („Rudi Ratlos") oder die Filmpardodie („Kriminaltango") ebenso eingesetzt wie die Anti-AKW-Bewegung („Strahlentod-Tango"). Immer wieder ein makabrer Totentanz, der süß besungen wird.

Ganz offensichtlich war diese Konnotation auch für die Ostjuden gültig. Denn die Transformation des „Schpil’sche mir a lidele in jiddisch" ins KZ ist selbst schon ein Vorgang, wie ihn der Tango per se enthält. Insofern ist die Verwendung der Tango-Form als Mittel und Ergebnis solch eines Transformationsvorganges zwingend und überzeugend. Und selbst beim Wiegenlied aus dem Ghetto von Lodz wirkt diese Konnotation. Das Kind steht zusammen mit seiner Mutter vor dem Abgrund und es ist wahrscheinlich, dass es abstürzen wird. Denn Gott hat die Welt bereits „dicht gemacht" („farmakht") wie einen Kramladen, der keine Kundschaft mehr hat.

Allerdings hat Tango noch mehr Eigenschaften, die über die Konnotation des „schön Makabren" hinausgehen:

Im Tango wird argumentiert und rational begründet und nicht ein vages Gefühl von Traurigkeit vorgegaukelt. Jenes beim Schlager diagnostizierte ‚schwindelhafte Versprechen von Glück, das anstelle des Glücks selber sich installiert’, polt der Tango keineswegs auf Unglück und larmoyanten Weltschmerz um. In keinem Text gibt es Traurigkeit um ihrer selbst willen, sondern konkrete Verlustanzeigen. Man ist im Tango nicht deprimiert traurig, sondern trauert um etwas... (Reichardt 1984, S. 173).

Selbst die derzeit „angesagte" Tango-Gestik (Bild: Blatt 10) enthält noch die von Reichardt beschriebenen Züge, auch wenn hier viel Artistik und Stilisierung mitgewirkt haben.

Die beiden jiddischen (Tango-)Lieder zeigen, dass die Juden auch diese Eigenschaft des Tango musikalisch „verstanden" haben. Beide Lieder sind konkret und gaukeln kein „vages Gefühl von Traurigkeit" vor. Im Wiegenlied verleiht der Tango dem „einwiegenden" Charakter dieser Gattung etwas Widerborstiges. Das Lied wird nicht an einer Wiege für ein Baby, sondern in einem Ghetto-Theater vor einem erwachsenen Publikum gesungen. Und der „Jiddisch tango" gerät in die Nähe eines Marsches, der dem Gestus des Partisanenliedes „Sog nischt kejnmol" ähnelt. Die Begleitung von Daniel Kempin stimmt wörtlich mit der von Hanns Eisler stammenden Begleitung des Einheitsfront-Liedes überein, das es auch in einer jiddischen Version gibt.

In einem kurzen Musikbeispiel, das als Loop abgespielt werden sollte, habe ich auf dem linken Stereokanal 8 Takte von Kempins „yidish-tango" und auf der rechten Spur 8 Takte des jiddischen Einheitsfrontliedes eingespielt. Man kann mit dem Panoramaregler zwischen beiden Versionen hin- und herwechseln oder aber beide gleichzeitig hören.

Bemerkung: „Tsu eyns, tsvey, dray" heißt das jiddische Einheitsfront-Lied, dessen Text von Leib Rosenthal (1916-1945) stammt. Es wurde 1943 im Warschauer Ghetto aufgeführt. Ferner gab es eine Version von Shmerke Katsherginsky aus dem Jahr 1942, die als „Hymne" der Partisanenorganisationn „farynikte partizaner organizatsye" verwendet wurde.

Haltungsübungen zu Klezmer und Tango

Die SchülerInnen bewegen sich frei im Raum. Sie sollen (nach Zuruf) in bestimmten „Haltungen" gehen: melancholisch, wie ein Partisan, traurig, aggressiv, sarkastisch, hinterhältig, marschmäßig, wehleidig, wiegend, wie die Großmutter tanzt, usw. (Man verwendet also lauter Haltungs-Begriffe, die bei der Analyse der Musikstücke eine Rolle spielen!) Der Bewegungsfluss wird immer wieder durch „Stop!"-Rufe unterbrochen: alle erstarren zum Standbild und gehen erst nach erneutem Ruf weiter. In der Standbild-Position werden die SchülerInnen aufgefordert, sich (ohne Körperbewegung) umzusehen.

Gehhaltungen: Es wird Musik eingespielt und die SchülerInnen bewegen sich passend zur Musik. Verwendet wird eine Collage der Musikstücke

Sprechhaltungen: Alle stehen im Kreis. Jeweils eine Person geht auf eine andere zu und spricht einen Satz in einer von SL vorgegebenen Haltung („frech", „bettelnd", „herablassend", „aggressiv" usw.).

Rhythmusübungen: Ein Teil der Gruppe klatscht oder spielt auf Schlaginstrumenten Tango-Patterns, der andere Teil spricht den Text (rhythmisch).

Standbilder gegenüberstellen: Der Gestus von „Makh tsu di eygelekh" und „Tsu eyns, tsvey, dray" sollen einander gegenübergestellt werden.

Schritt 1: Zwei Kleingruppen entwickeln getrennt je ein Standbild. Bild Nummer 1 zeigt Mutter mit Kind, Bild Nummer 2 jüdische Partisanen. Schritt 2: Die beiden Bilder werden relativ weit voneinander entfernt aufgestellt. Zu jedem Bild werden deutsche Wachleute hinzugestellt. Schritt 3: Durch Änderung der Haltungen an den Standbildern sollen beide Bilder zueinander in Beziehung gebracht werden. Mehrere Möglichkeiten werden ausprobiert.

Musikalische Durchführung: Erst das Wiegenlied mit Bild 1, dann das Einheitsfrontlied mit Bild 2, dann beide Lieder (aus verschiedenen Richtungen) gleichzeitig, sodann Einigung auf eine etappenweise Choreografie: Musik hintereinander verbunden mit „Bildwechseln".

Makh tsu die eygelekh

Makh tsu di eygelekh

Ot kumen feygelekh

Un krayzn do arum

Tsukopns fun dayn vig.

Dos pekl in der hant,

Dos hoyz in ash und brand.

Mir lozn zikh mayn kind

Zukhn glik.

Die velt hot got farmakht,

Un umetum iz nakht.

Zi vart af undz

Mit shoyder und mit shrek.

Mir shteyen beyde do

In shverer, shverer sho

Un veysn nit vuhin

S’fit der veg.

Men hot undz naket, bloyz

Faryogt fun undzer hoyz.

In finsternish

Getribn undz in feld.

Un sturem, hogl, vint

Hot undz bagleyt mayn kind.

Bagleyt undz inem opgrunt

Fun der velt.

(englische Schreibweise)

Mach zu die Äuglein

Mach zu die Äuglein

Raus kommen Vöglein

Und kreisen herum

Am Kopf deiner Wiege.

Den Packen in der Hand

Das Haus in Asch und Brand.

Wir lassen zurück mein Kind

Und suchen Glück.

Gott hat die Welt zugemacht

Und um und um ist Nacht.

Sie wartet auf uns

Mit Schauer und mit Schreck.

Wir stehen beide da

In schwerer, schwerer Stunde

Und wissen nicht wohin

Uns führt der Weg.

Man hat uns nackt und bloß

Verjagt aus unserem Haus.

In Finsternis

Getrieben und ins Feld.

Und Sturm, Hagel und Wind

Hat uns begleitet mein Kind.

Begleitet uns in einen Abgrund

Von der Welt.

(Anmerkung: wörtliche Übersetzung)


4. „Dona Dona" oder „Dos Kelbl"

Material

Wolf Biermann

Sie alle kennen das: Wenn in der englischen Welt vom Holocaust die Rede ist, wenn die Israelis von der Shoa sprechen oder wenn wir Deutschen ohne allen ideologischen Euphemismus lieber vom Massenmord am jüdischen Volk reden, dann spukt in allerhand Hinterköpfen immer auch die Metapher von den sechs Millionen Opfern der Endlösung, die sich alle wie Lämmer und die Kälber zur Schlachtbank führen ließen. Das Gleichnis vom blöden Kalb, dem ängstlichen und hilflosen Rindviehlein, das widerstandslos zum Schlächter trottet, hat mich schon lange geärgert. Es stützt ja jenes Vorurteil, das die kerngesunden Mörder seit eh und je gerne in die Welt hineinlügen: selber Schuld!... Ihr wolltet es so haben! Eure Schwäche hat uns gereizt, ja geradezu verführt!

(Im Vorwort der Übersetzung von Jizchak Katzenelson’s „Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk", Biermann 1996, S. 15.) In einem offenen Brief schreibt Biermann einige Monate später etwas dialektischer:

Das Lied selber hat eine interessante Doppelsinnigkeit. In der unreflektierten emotionalen Dimension, ist es einfach schön, rührend, und hat im kindlichen Sinn eine hübsche kleine Moral. Wenn man es tiefer anschaut, merkt man, wie verkorkst es ist: Ausgerechnet der Bauer, der das Kalb zum Schlachter bringt, hält ihm so eine dämliche Rede über die Vorzüge eines Vogels, er. Der selber nicht fliegen kann und zudem ganze Schwärme geflügelter Knechte auf seinem Hofe hält: Gänse, Enten, Hühner. Die große Metapher stimmt hier nur im „übertragenen Sinn" wie eine lächerlich herbeikonstruierte Allegorie, die in der banalen realistischen Dimension überhaupt nicht stimmen kann. Das ist eigentlich schlechte, minderwertige Poeterey. Und dennoch hat das Lied diesen Zauber eines diffusen Freiheitsdranges. Man könnte fast sagen: so lächerlich verquast sind in Wirklichkeit ja bei den Menschen auch die gelegentlich aufflackernden Freiheitssignale. Eine Art naiver Realismus.

(Zitiert bei Uve Urban 1994. Urban korrigiert ausführlich den Irrtum, demzufolge „Dona Dona" von Jizchak Katzenelson gedichtet worden sein soll.)

Ojfn wogn ligt a kelbl,

ligt gebundn mit a schtrik.

Ojfn himl flit a fejgl,

flit un drejt sich hin un zurik.

Lacht der wind in korn,

lacht un lacht un lacht,

lacht er op a tog, a ganzn

mit a halbe nacht.

Hej, dana dana dana dana,

Dana dana dana da. (2X)

Wejnt dos kelbl, sogt der pojer,

wershe hejst dich sajn a kalb?

Wolstu besser sajn a fejgl,

wolstu besser sajn a schwalb?

Lacht der wind...

Bidne kellech darf men bindn

Un men schlept sej un men schlecht.

Ober wer’s hot fligl, flit arojf zu

Un is kejnems nischt kejn knecht.

Lacht der wind...

On a wagon bound for market,

there’s a calf with mournful eye.

High above him there’s a swallow

Winging swiftly through the sky.

How the winds are laughing,

they laugh with all their might,

laugh and laugh the whole day through

and hald the summer’s night.

Dona, dona, dona, dona,

dona, dona, dona, do. (2X)

„Stop complaining!" said the farmer;

„Who told you a calf to be?

Why don’t you have wings to fly with

Like the swallow so proud and free?"

How the winds...

Calves are easily bound and slaughtered,

never knowing the reason why,

but whoever treasures freedom,

like the swallow has learned to fly.

How the winds...

Auf dem Wagen liegt ein Kälbchen,

liegt gebunden mit dem Strick.

Durch den Himmel fliegt ein Schwälbchen,

fliegt und flattert hin und z’rück.

Lacht der Wind im Kornfeld,

lacht und lacht und lacht.

Lacht darob den Tag, den ganzen, und die halbe Nacht.

Hej, dana dana dana dana,

dana dana dana da (2X).

Weint das Kälbchen, sagt der Bauer:

Wer hat dir gesagt „sei Kalb!"

Solltest lieber sein ein Vogel,

solltest lieber sein die Schwalb.

Lacht der Wind...

Dumme Kälber soll man binden,

schlachtet sie und hat noch recht.

Doch, wer Flügel hat, kann fliegen und ist keines Menschen Knecht.

Lacht der Wind...

 

Zur musikalisch-szenischen Aufführung

Eine szenische Umsetzung der Story mit „Soli" (Kälbchen, Vogel, Bauer) sowie Chor (Wind-Lachen und Dona-Gesang) ist naheliegend und für SchülerInnen fast selbstverständlich. Der Chor kann sich als „Kornfeld" aufstellen und sich lachend im Wind bewegen – auch beim Dona Dona -, der Vogel kann den Wagen mit dem Kalb „umfliegen".

Einige Verfahren der szenischen Interpretation sollten bei der Vorbereitung dieser szenischen Umsetzung eingesetzt werden: Die drei Strophen sollten zunächst jeweils in einem Standbild dargestellt und „befragt" werden. Das Befragungsergebnis sollte in eine Präzisierung der Ausführungsdetails überführt werden.

Fragen zum Beispiel:

  • Warum lacht der Wind?
  • Welche Bedeutung hat „Dona Dona" für Vogel, Kälbchen und Bauer?
  • Warum fliegt der Vogel hin und her? Will er dem Kälbchen etwas sagen?
  • Was würde der Bauer tun, wenn das Kälbchen von einem großen Vogel „entführt" würde?
  • Welche Befreiungsversuche kann das Kälbchen unternehmen? Wer könnte noch dabei behilflich sein?
  • Kann es eine „Bestrafung" für den Zynismus des Bauern geben?
  • Was tut der Bauer, um seine Hühner, Gänse, Enten etc. am Fliegen zu behindern?

Die eigene Aufführung kann auch szenisch diskutiert oder verändert werden. Dazu können relevante Passagen der Interpretationen von Theodor Bikel und Joan Baez in Standbildern dargestellt werden. Diese Bilder könnten auch zu einer Modifikation unseres relativ emotionslos angelegten instrumentalen Arrangements führen. Für die szenische Interpretation eignet sich auch die deutsche Fassung von Aufwind, die den heutigen deutschen „Aufführungsstandard" darstellt.