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Heiner Goebbels: Über „Eislermaterialien" (1998)

(frei nach einem Vortrag auf dem Festival „Musik und Politik" Berlin 2000)

In den „Eislermaterialien" verarbeitet Goebbels einerseits eigene Erfahrungen mit politischer Musik (Duo Goebbels/Harth und „sog. linksradikales Blasorchester"), andererseits versucht er, Verfahren, die Hanns Eisler propagiert oder (teilweise) realisiert hat, in aktueller Form darzubieten. Die „Eislermaterialien" sind ein Kompopsitionsauftrag der Münchner „musica viva" (Udo Zimmermann) und wurden vom Ensemble Modern uraufgeführt und inzwischen 30 Mal aufgeführt.

Ziel der Komposition: den Umgang mit Eisler(mate-rialien) zu demonstrieren - und zwar aus der eigenen Erfahrung mit politischer Musik in der BRD 1978-99 heraus.

(1) Professionalität kann politisch hemmen: G.’s Erfahrungen mit der linken Blasmusikbewegung der BRD.

(2) Das „Peinliche" an Arbeitermärschen (der K-Gruppen der 70er) hat G. durch jazziges Spiel zu beheben versucht (Sax/Klavier).

(3) Die Konzert-Inszenierung wurde aufgebrochen: Dirigent, Solist, Vortragsart, Sitzordnung, Relation Musiker-Publikum

 

 

 

 

 

(4) Selbstbestimmter Umgang mit „Materialien" in der Improvisation.

 

(5) Montage als Verfahren, sich auf gesellschaftliche Erfahrung zu stützen.

20 Jahre habe ich gedacht, wenig mit Eisler zu tun gehabt zu haben, während ich Ende der 70er viel Eisler gespielt habe, doch das war eigentlich gar nicht der Fall... ich habe versucht, die ganzen Erfahrungen zur Verfügung zu stellen.

 

Das Ensemble Modern, das ja normalerweise sehr präzise und sehr gut spielt, wollte ich mit diesem Stück (Bearbeitung des Marsches aus „Die Mutter") noch einmal in den Zustand der musikalischen Unschuld versetzen, indem ich alle Musiker gebeten habe, Blasinstrumente zu spielen. Alle, also auch die Streicher...

 

...hören Sie eine Montage aus den Bunge-Gesprächen... Die Einleitung zum Marsch wird übrigens in der Besetzung gespielt, in der ich 1978 mit Alfred Harth ebenfalls Eisler interpretiert habe.

Ich habe mit meinen Eislermaterialien versucht einzulösen, was Eisler selbst als Anspruch formuliert hat. Ich zeige das am Anfang „Anmut sparet nicht noch Mühe". - Beispiel - Was hat mich zu dieser Inszenierung bewogen? (1) Es gibt keinen Dirigenten, wie es Eisler gefordert hat... (2) es gibt eigentlich keinen Solisten, der vorn an der Rampe steht, (3) es wird „mit äußerster Diskretion" gesungen, (4) das Zusammenspiel der MusikerInnen wird durch die Sitzanordnung möglichst schwer gemacht, alle sitzen weit auseinander, die Klaviere spielen mit dem Rücken zueinander.

Sie sehen, die Bühne ist leer außer einer kleinen Statue und ein paar Bänden der Eisler-Gesamtausgabe. ... Was wirklich passiert, ist, daß dieses leere Zentrum der Bühne nach und nach - weil die Kommunikation zwischen den Musikern dadurch so freigelegt ist - vom Publikum eingenommen werden kann.

Und drittens gibt es noch einen weiteren Aspekt der Vereinnahmung des Materials durch die Musiker: die Improvisation: verabredete Freiheiten, wie ich es mit Harth zusammen gemacht habe, Materialien frei bieten über gewissen Strukturen, Harmonieverbindungen.

Zur Haltung des Kompositorischen: Ich arbeite gerne mit Fundstücken, das ist keine neue Idee. Es ist zwar unter Komponisten manchmal ein bißchen verpönt, und die nötige Anerkennung, die Eisler vielleicht gebührt hätte, ist ihm möglicherweise auch deswegen versagt worden, weil er zu den Komponisten gehörte, die sich sehr stark auf gesellschaftliche Erfahrungen gestützt und sich auch nicht gescheut haben, sie in Musik umzusetzen oder zu übernehmen. In seinen Liedern gibt es zahlreiche Zitate von Schubert, von Bach, Gesten anderer Komponisten. Das ist in der Musik eine etwas schwierige Position; in der Literatur ist das etwas Selbstverständliches...[Hinweis auf Büchner]. Literaten sind sich eher bewußt, daß sie niemals etwas ganz Neues erfinden, sondern aus einem Umfeld gesellschaftlicher Erfahrungen sprechen.Das täte der Musik auch ganz gut! Ich habe mich jedenfalls immer begriffen als jemand, der auch auf das Moment der individuellen Erfindung verzichten kann.

 

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