Blatt 2

Kompositionstechniken in der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts

 Problemstellung:

  • Kann oder soll man die Kompositionstechnik bewußt hören?
  • Welche Rolle spielt die Kompositionstechnik für die Wirkung der Musik?

Voraussetzungsloses Hören von vier Musikstücken 1908 - 1937 - 1952 - 2000

Einige Gemeinsamkeiten der Stücke

 

Einige Unterschiede zwischen den Stücken

 

Die drei ersten der folgenden Texte sind von den Komponisten, der letzte Text ist von einem Freund geschrieben.

Text 1: Wir hören auf das Ganze hin, behalten einen zusammenfassenden Eindruck, in dem die Einzelheiten so gleich stark auseinandergehalten werden, daß keine Verbindungen auftauchen, die wichtiger als andere werden. Wir nennen das strukturelles Komponieren bzw. Hören. Die Art, wie die Töne zusammengefügt sind und in der Gruppe erscheinen, bleibt in Erinnerung, weniger das einzelne daran, das einzelne Intervall, das einzelne Zeitverhältnis. Möglichst alles Komponierte soll gleich stark am Formprozeß beteiligt sein, und nichts soll dominieren, wie etwa die Melodie, die wir nachsingen, den Rhythmus, den wir nachschlagen könnten oder die Lautstärke, von der wir sagen könnten, daß sie nur leise oder laut sei, da sie ja in den gehörten Beispielen nicht auf längere Zeit gleich bleibt.  (Stück 1952)

Text 2: Immer verschieden und doch immer dasselbe! Wo immer wir das Stück anschneiden - immer muß der Ablauf der Reihe festzustellen sein. Hierdurch wird der Zusammenhang gewährleistet; es bleibt im Ohr doch etwas hängen, auch wenn es nicht bewußt wird.

Ich kann jetzt freier erfinden, alles hat einen tieferen Zusammenhang. Ganz paradox gesprochen: Erst auf Grund dieser unerhörten Fessel ist volle Freiheit möglich geworden!

Wenn man zu dieser richtigen Auffassung von Kunst kommt, dann kann es keinen Unterschied mehr geben zwischen Wissenschaft und inspiriertem Schaffen. Je weiter man vordringt, umso identischer wird alles, und man hat zuletzt den Eindruck, keinem Menschenwerk gegenüberzustehen, sondern der Natur. (Stück 1937)

Text 3: Der erste Ton wird frei gesetzt, ein zufälliger Impuls aus dem Nichts, ein Schöpfungsakt der Freiheit. Das darauf Folgende ist ein sich sehr schnell und energisch fort entwickelndes Spiel dreier unabhängiger Kräfte: der Gravitation der Tonhöhen, der Spannung der Tondauern und der Energie der Tonstärken. Die Töne gruppieren sich zu Gestalten so, wie am Sternenhimmel einzelne Lichtpunkte sich zu Sternbeildern zusammenschließen. Das Ohr klammert sich an ihnen fest, schlägt die Brücke zur nächsten, sucht und findet. Die Musik zieht nur scheinbar intentionslos am Hörer vorbei. Dieser fragt nicht, was will der Komponist ihm sagen will, vielmehr sinnt er darüber nach, wie sich die Gestalten in seinem Kopf zu Sinneinheiten zusammenfügen - bei jedem Hören des Stückes neu. (Stück 2000)

Text 4: ... bei voll entwickelter, doch tonal interpretierter Chromatik treten melodisch wie harmonisch Ganzton- und Quarten-Bildungen bestimmend hervor. Er [der Komponist] übernimmt die neuen Modelle ohne Vorbehalt und ohne je durch bequemes Spiel sie um Formsinn und Formforderung zu bringen. Er vermischt sie nicht mit Traditionellem; aber als Meister des kleinsten Überganges entwickelt er sie daraus; vermittelnd nicht zwischen Stilen, doch zwischen dem neuen Material und dem vorgegebenen; nicht vorsichtig Rücksichtiger und gemäßigter Moderner, treu indessen die historische Verbindungslinie sichernd, oftmals gleichsam sie nachvollziehend. Unter der dünnen, erzitternden Hülle der vorgesetzten Form liegt die ganze dynamische Kraft der Musik: wer ihrer Dialektik inne zu werden vermag, den wird sie nicht ins akustische Chaos reißen. (Stück 1908)

 

Auswertung und Diskussion - die Theorie vom Vorder- und Hintergrund

  Vordergrund Hintergrund
Definition, Charakterisierung Die kompositionstechnischen Maßnahmen sind bewußt (spontan oder aufgrund von Bildung). Der Komponist „modelliert" im Vordergrund Gestalten, Form, Energetik... Vom Vordergrund geht die psychische Wirkung aus. Die kompositionstechnischen Maßnahmen wirken sich indirekt aus, sind aber nicht direkt hörbar. Sie beeinflussen die Gestalten etc. im Vordergrund und/oder sind bedeutsam für den Komponisten (z.B. als „Entlastung" oder Anregung oder Philosophie).
1908: Alban Berg, Klaviersonate op. 1: nur Vordergrund Die „Auflösung" der Tonalität, die Entwicklung traditioneller Themen/Motive, der Weg zur Atonalität ist explizit hörbar. Alles, was komponiert wurde, ist direkt hörbar. (Nicht im Sinne der strukturellen Gehörbildung, sondern als historische Tatsache.)
1937: Anton Webern, Klaviervariationen op. 27: eine einzige Hintergrundsschicht (Tonhöhe), der Vordergrund ist einfach (Gestalt) Es gibt sehr einfache „Gestalten", die dialogisch gesetzt sind. Es gibt hörbare Formabschnitte mit Viererstruktur. Man kann sogar mathematische Gesetzmäßigkeiten vermuten, teilweise auch hörend „nachzählen". Die Binnenstruktur der Gestalten ist durch eine „Reihe" hervorgebracht, die nicht direkt hörbar (z.B. nachsingbar) ist. Diese Reihe ist für den Komponisten wichtig („entlastende" und „symbolische" Bedeutung) und wirkt sich indirekt auf die Gestalten im Vordergrund aus.
1952: Karlheinz Stockhausen, Klavierstück No. 1: viele Hintergrundsschichten, der Vordergrund als „Gestus" Im Vordergrund sehr zerklüftete „Gruppen" von einer gewissen „Morphologie", einem „Gestus". „Zählendes" Gestalthören ist unmöglich. Intendiert ist „ganzheitliches Hören". Das Wirken der Reihe im Hintergrund ist auf Parameter ausgedehnt, die bei Webern explizit im Vordergrund modelliert wurden: Tondauern, Lautstärken, Motivproportionen.
2000: Wolfgang Martin Stroh, Algorithmische Studie: alles ist im Hintergrund, der Vordergrund wird hörend „konstruiert" Außer einer Großeinteilung in 12 Gruppen (Abschnitte) gibt es keinen gestalteten Vordergrund mehr. Wenn der Hörer Gestalten hört, so „konstruiert" er diese im Zuge seiner (gewohnten) Sinnsuche beim Musikhören. Die gesamte Komposition spielt sich im Hintergrund ab und wird einem Algorithmus überantwortet, der mit Zufallsgeneratoren operiert. Die „kompositorische Tat" ist nur noch die Konstruktion dieses Algorithmus.

Anmerkung: nach der Bearbeitung von Blatt 3 kann diese Tabelle durch folgende Zeile ergänzt werden:

Igor Strawinsky, Agon (T. 473-483): Keine prinzipielle Trennung von Vorder- und Hintergrund, Hörer kann auswählen, wie er hört Mehrere Kompositionsprinzipien, die bei Webern/Stockhausen im Hintergrund wirkten, werden in den Vordergrund gezogen. Wegen der Vielfalt sind nicht alle direkt hörbar. Aufgrund eines hörpsychologischen „Unvermögens" bleiben gewisse Strukturprinzipien im Hintergrund - nicht jedoch prinzipiell.