Experiment1 zur Konsonanzwahrnehmung

1. Motivation, Relevanz, Forschungsinteresse

Die abendländische Musik ist stark geprägt durch die Phänomene Mehrstimmigkeit, Harmonik-Melodik-Zusammenhang und Konsonanz-Dissonanz-Hierarchie. Diese Phänomene haben sich heute auf dem Umweg über die kommerzielle Popmusik über die ganze Welt ausgebreitet und gelten häufig als „natürlich". Dieser Erfolg der abendländischen Musik kann unterschiedliche Ursachen haben: entweder ist diese Musik qualitativ besonders gut („darwinistische Argumentation"); oder das ökonomische System, das diese Musik vertreibt, arbeitet besonders effektiv oder aggressiv. – Es ist von Interesse herauszufinden, ob es eine hörpsychologische oder „biologische" Grundlage für die genannten Phänomene gibt. Wäre dies der Fall, so würde die „darwinistische Argumentation" gestützt...

2. Allgemeine Fragestellung

Die Wahrnehmung von gleichzeitig erklingenden Tönen wird in zweierlei Hinsicht gewertet:

psychologisch als Sonanz im Sinne unterschiedlicher Angenehmheit oder Verschmelzung des Mehrklanges selbst,

kompositionstheoretisch als musikalische Funktion im Sinne von Kon- und Dissonanz innerhalb des musikalischen Satzes.

Zum Sonanz-Aspekt kann man versuchen, durch Experimente eine Hierarchie von „Sonanzen" empirisch zu ermitteln. Man könnte eine „Angenehmheits-Skala" erfragen:

je zwei Mehrklänge werden gespielt und die Versuchspersonen sollen sagen, welcher „angenehmer" erscheint.

Das Problem bei diesem Experiment ist, dass die meisten Versuchspersonen ihr musiktheoretisches Wissen um Kon- und Dissonanz in das Experiment mit einfließen lassen. Man kann aber auch die „Verschmelzung" ermitteln:

Ein- und verschiedene Mehrklänge werden durcheinander gespielt. Die Versuchspersonen sollen nur sagen, ob sie einen oder zwei Töne hören. Aus der Fehlerzahl bei Mehrklängen schließt man: „je größer die Fehlerquote, umso stärker die Verschmelzung".

Im Grunde ist dies Experiment eine Definition von „Verschmelzung". (Demo-Durchführung im Kurs.)

Die Frage „Konsonanz-Dissonanz" wird auf Grund von Wissen und auf dem Hintergrund einer Kompositionslehre beantwortet. Sie ist keine genuin hörpsychologische Frage. Es ist aber eine hörpsychologische Aufgabe herauszufinden, ob die Fähigkeit, Kon- und Dissonanzen zu unterscheiden, eine hörpsychologische Basis - eben das Sonanzphänomen - hat. Folgende Fragen liegen dabei auf der Hand:

Inwieweit gibt es „objektive" Grenzen der kulturspezifischen und daher erlernten Aspekte der Konsonanz-Wahrnehmung?

Gibt es innerhalb eines Kulturkreises gewisse Regeln für die (Kon-)Sonanz-Wahrnehmung?

Gibt es irgendwelche biologischen Erklärungen dafür, dass es solcherlei Regeln gibt?

3. Gibt es in der musikwissenschaftlichen Literatur Antworten auf die allgemeine Frage?

Proportionentheorie: je einfacher die Zahlenproportion des Intervalls, umso größer der (Kon-) Sonanzgrad. (Pythagoras 6 Jhd. v. Chr.)

Schwebungstheorie: je mehr Schwebungen zwischen den Obertönen der Intervalltöne möglich sind, umso geringer ist der (Kon-)Sonanzgrad. (Helmholtz 1863)

Verschmelzungstheorie: je schwieriger es überhaupt ist, zwei getrennte Töne wahrzunehmen, umso größer ist der (Kon-)Sonanzgrad. (Stumpf 1890)

Gestalttheorie: je prägnanter die Darbietung als eigenständige „Gestalt" wahrgenommen wird, umso geringer ist der (Kon-)Sonanzgrad. (Husmann 1953)

Virtuelle Tonhöhen-Theorie: je besser die „virtuelle Tonhöhe" ausgeprägt ist (d.h je eher die Intervalltöne auf einen gemeinsamen Grundton verweisen), umso größer ist der (Kon-)Sonanzgrad. (Terhardt 1976)

4. Reduktion der Fragestellungen, Formulierung von Hypothesen

Eine mögliche Hypothese ist: Das (Kon-)Sonanzphänomen hat eine biologische Basis im Ohr. Aufgrund dieser Basis wird die kulturspezifische Unterscheidung Konsonanz-Dissonanz gelernt. Wir reduzieren die allgemeine Fragestellungen und die Überprüfung der Hypothese auf aller einfachste Teilfragen.

Reduktion 1: Nicht die Wertung, die mit dem Sonanzbegriff verknüpft ist, sondern das (musiktheoretisch und terminologisch gestützte) Erkennen von Intervallen wird untersucht.

Reduktion 2: Nicht die Gesamtheit aller Intervalle wird miteinander verglichen, sondern nur einzelne Paare von Intervallen werden einander gegenübergestellt.

 

5. Versuchsdesign: Mon- und binaurale Darbietung von Mehrklängen

Der Frage „Ohr oder Gehirn" gehen wir mit einem „binauralen Experiment" an, indem wir die Mehrklänge einmal Mono und einmal Stereo darbieten.

Bei monauraler Darbietung könnte die Hörleistung vom Ohr vollbracht werden. Bei binauraler Darbietung liegt die Hörleistung nicht (mehr) im Innenohr, sondern im zentralen Nervensystem oder Gehirn. Die Mehrklänge werden monaural und binaural dargeboten, die Fehlerquoten werden mit einander verglichen.

6. Aufbau und Durchführung des Experiments

Es werden drei Intervallgruppen getestet, die je nach Theorie mehr oder weniger verwechselt werden:

Oktave/Quint liegen als Distanz weit auseinander, ähneln sich aber nach der Proportionen- (Oberton-) Theorie besonders stark,

reine Quart/Tritonus liegen als Distanz nahe zusammen, unterscheiden sich aber stark in funktionaler Hinsicht und haben als Proportion nichts miteinander zu tun,

Dur-Dreiklang/übermäßiger Dreiklang ähneln sich in der Distanz, nicht in der harmonischen Funktion, und verschmelzen unterschiedlich.

Die drei „Paare" werden jeweils 14 Mal als einfache Rechteckschwingung dargeboten (siehe Blatt). Die Musikbeispiele werden mittels Midi realisiert. Dabei wird bei Quint und Quarte ein „reines" Intervall verwendet (also 3:2 und 4:3) und nicht ein temperiertes. Das Midifile kann von der Seite www.uni-oldenburg.de/musik-for/modul3/sysmw herunter geladen werden. Es hat die Bezeichnung experiment1.mid. Es muss über Kopfhörer abgehört werden. Das Midifile besteht aus 6 mal 16 Tönen:

Jede Darbietung beginnt mit einem Testpaar zum Einhören. Ihm folgt eine etwas größere Pause.

Sodann folgen 14 Beispiele relativ zügig hintereinander. Zwischen jeder Darbietung ist eine Pause.

Es ist pro Mehrklang ein Kreuz zu machen.

Bitte spontan ankreuzen und das Experiment nicht als Gehörbildungstest auffassen oder mehrfach durchführen, da es gerade auf die „spontane Fehlerquote" (also die Verwechslungswahrscheinlichkeit) ankommt.

 

7. Ergebnisse 

Dies Blatt wird im Seminar auch in gedruckter Form ausgegeben. Genaue Details als Excel-Tabelle!

-1 Signifikant großer Unterschied zwischen Mono und Stereo: Die Mittelwerte betragen 0,9 (mono) und 3,2 (stereo).

-2 Dies ist das einzige Test-Paar mit einem derart großen Unterschied.

Die Unterscheidung Oktav/Quint wird weniger durch einen kognitiven Vergleich getroffen, sondern eher durch die „Klangqualität", die vom Ohr diagnostiziert wird. Es findet kein Distanzen-Messen statt, da ansonsten die binauralen Ergebnisse besser sein müssten – sowohl im Vergleich zu mono, als auch im Vergleich zu Quart/Tritonus. Helmholtz Schwebungstheorie scheint bestätigt.

-1 Die Fehlerquote ist generell sehr hoch, vor allem auffallend höher als bei Oktav/Quint.

-2 Ein Unterschied zwischen Mono und Stereo (Mittelwerte 4,2 und 5,9) liegt vor, jedoch nicht so krass wie bei Oktav/Quint.

Die harmonisch unterschiedliche Qualität von Quart und Tritonus spielt eine geringe Rolle beim Hören. Fraglich ist, ob die hohe und ähnliche Fehlerquote vom geringen Größenunterschied oder vom ähnlichen Konsonanzgrad herrührt. Stumpfs Verschmelzungstheorie scheint widerlegt. Helmholtz Schwebungstheorie ist gültig, da die Obertöne von Quart und Tritonus ähnlich nahe beieinander liegen. Pythagoras ist widerlegt.

-1 Die Fehlerquote ist genau so gering wie bei Mono-Okatv-Quint.

-2 Es gibt keinen Unterschied zwischen Mono und Stereo (Mittelwerte 1,3 und 1,5).

Sowohl Helmholtz als auch Stumpf als auch Pythagoras könnten durch dies Experiment bestätigt werden. Die Fähigkeit, einen „harmonischen" Durdreiklang von einem künstlichen Übermäßigen unter allen Umständen gut unterscheiden zu können, liegt sowohl an der Klangqualität (also „im Ohr"), als auch an einer kulturell-harmonischen Qualität (also im Gehirn).

8. Gesamtinterpretation

Trotz der geringen Menge an Daten kann dies Experiment eine Reihe von Gedankenanstößen liefern. Zum einen merkt man, dass es zwei Hörstrategien beim Intervallhören gibt: eine Art intuitives „Klangqualitäts-Empfinden" und ein kulturell bedingtes „funktionales" Hören. Das intuitive Empfinden basiert auf dem Hörvorgang im Ohr selbst, während das funktionale Hören eine Leistung des Gehirns ist. Je nach Intervall überwiegt die eine oder andere Hörweise. Bei Oktav-Quint steht die reine „Klangqualität" im Vordergrund, bei den Dreiklängen halten sich Klangqualität und Funktional-Hören die Waage. Bei Quart und Tritonus scheint das funktionale Hören (aufgrund der hohen Fehlerquote) fast ausgeschaltet. Es kann aber auch nicht kulturell verbessert werden.