Tiefenwirkung von Musik: Musik und Gewalt/Aggression

Schema zu drei Theorien

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SPIEGEL, 26.9.1956:

...[Elvis Presley-Konzert] Wie in Trance taumeln die Halbwüchsigen in die Gänge der Riesenhalle und tanzen allein für sich wie besessene Medizin-Männer eines Urwald-Stammes, nur beherrscht von einer Musiks, die seit einigen Monaten Amerikas Jugend in ihren Bann hält, dem internationalen Musik-Markt nach dem Mambo einen neuen Schlagertyp beschert, aber auch Erzieher, Eltern und Polizei zu erbitterten Protesten aufrief. Die neue Art von Schlagermusik heiß Rock'n'Roll, eigentlich Rock and Roll.

[Berschreibung von Randale bei Fats Domino-Konzerten und von Polizeieinsätzen...] Ähnliche Szenen spielten sich in vielen anderen amerikanischen Städten ab, in denen der magische Rock'n'Roll-Rhythmus durch die Säle drühnte und den Destruktionstrieb der Halbwüchsigen freilegte. Unbestreitbar hat R&R auch auf dem deutschen Schlagermarkt, der entweder von triefender Sentimentalität oder neckischer Naivität beherrscht wird, gezündet. Vielleicht ist Rock'n'Roll ein Fall für die Anthropologen, kommentierte der Manchester Guardian. Vielleicht sind die Vorfälle ein Echo ritueller Stammestänze nach dem Rhythmus der Negertrommel oder ein Echo der Zauberformel, nach denen Derwische herumwirbeln - wenn auch diesmal in einer etwas nüchterneren Umgebung.


Wolfgang Leuschner: Rock’n’Kill. Die mörderische Macht der Nazimusik.

Aus: Psychologie heute 3/1994, S. 52-57. Stark gekürzte und kondensierte Wiedergabe:

[Grundthese] Die Subjekte der "nationalen Pogrome" sind keine kleine Minderheit wie die Nazi-Skins und die Neo-Nazi-Parteien, sondern eine rassistische Masse von 20 bis 30 Millionen. Wir wissen nicht, wie sie entsteht, wie sie denkt, wie sie sich weiter organisiert und vor allem, auf welche Weise sie Gewalttätigkeiten hervorbringt und Täter erzeugt.

[Musik-These 1] Die Untersuchung der Eigenheiten der Musik-Kultur von Neo-Nazis erweist sich als gut geeignet, die Entstehungsbedingungen und Merkmale dieser Pogrommasse genauer zu erhellen.

Die "rassistischen Überzeugungen" sind

[Hauptthese] Damit sich aus solchen subjektiven rassistischen Vorstellungen heraus rassistische Massenbewegungen formieren können, damit sie mehr werden können als unsystematische Tendenzen, müssen sie homogenisiert werden.

Für Massensituationen gilt, daß Menschen situativ-abhängig paradox zu handeln vermögen, ohne in einen inneren Konflikt zu geraten.

[Musik-These 2] Daß aber auch Musik massenbildend ist, ist unbestreitbar. Offen war bisher die Frage, auf welche Weise Musik die Massen zusammenschließt. Wirksam sind offensichtlich Text und Musik [= Konzerte].

[Zu den Texten] Im Nazi-Rock werden anders als in den Altnazi-Liedern private Misere und eigene Aggressivität ausführlich dargestellt, die Feinde klar benannt.. sie sind gegen den Staat und enthalten kein Führerlob. Die Nazi-Lieder von früher wirken dagegen religiös verquast, hehr, gestelzt...

Die Annahme, daß es schlimme und weniger schlimme Texte gibt, ist falsch. Es gibt nur solche, die auf Zensur Rücksicht nehmen, und solche, die das nicht tun. Verundeutlichung und Verhüllung sind Propaganda-Technik.

[Zur Musik, d.h. zu den Konzerten] Nazirock übernimmt die massenpsychologischen Methoden "des Gegners" für ihre Zwecke. Die Wirkungen von Rockmusik sind vielfältig:

Die Musik allein ist unspezifisch, auch wenn ihre Wirkung gerade im Vergleich zur Musik der Alt-Nazis genauer zu erklären sein wird. Ihre politische Brisanz entsteht jedenfalls erst in Verbindung mit den Texten, als deren Feedback. Wie man anhand von Live-Mitschnitten gut beobachten kann, werden diese Lieder in wilden Haßgeschrei- und Tanz-Origien ekstatisch abgesungen... unüberhörbar ist der affektive und intellektuelle Ausnahmezustand. Die Folgen dieses Zustandes sind bedeutsam: es entsteht ein explosives Musik-Text-Gemisch, das in den Sängern und ihren Fans die Wirkung der rassistischen Parolen vertieft und verbreitert. Es entstehen Verhältnisse wie bei der Hypnose, nur ohne Führer. In den so herbeigeführten archaischen Seelenzuständen werden nicht nur rassistische Vorstellungsinhalte vertieft, sondern die Kontrollfähigkeit triebhafter Handlungen herabgesetzt.

Es wäre aber zu einfach, die Taten von Nazi-Skins als Ergebnis individueller posthypnotischer Aufträge zu betrachten. Vielleicht spielt dies kurzfristig eine Rolle, es kann aber den Pogromcharakter der neonazistischen Ausschreitungen nicht erklären. Vielmehr muß man in Rechnung stellen, daß die in den Individuen geweckten regressiven Verfassungen auf eine bisher unbekannte Weise ein besonderer Bestandteil der Pogrommasse werden.

Die Untersuchung der Nazi-Rock-Kultur im Gesamtzusammenhang zeigt aber eine weitere Formierungsmöglichkeit: Bei dieser kann sich eine Horde selbst erzeugen, um dann erst einen Hordenführer hervorzubringen. Zum dritten treten solche Kollektive mit anderen Gruppen oder großen Kollektiven in eine Wechselbeziehung: Was wären die Nazi-Skins ohne die Bestätigung durch die Alt- und Neo-Nazis, ohne den Rückhalt durch die Pogrommasse?

Die offene Darstellung bösartiger Ideen erfolgt in Massen arbeitsteilig, durch unterschiedlich gehemmte Fraktionen. Die Nazi-Rock-Kultur erweist sich als ein Bestandteil einer rassistischen Massenbewegung, die sich gegenwärtig in statu nascendi befindet. Unter psychologischen Gesichtspunkten dient Nazi-Rock der Herstellung einer tatbereiten und tatfähigen Avantgarde des Rassismus. Er führt zu einer psychologischen "Bewaffnung", um den Tabu-Bruch probehandelnd oder faktisch zu vollziehen. Das Authentische der Nazi-Rock-Kultur, jedenfalls ihr Bodensatz und ihre Ideale, sind mit dem der Alt-Nazis identisch.


Thesen zur Einschätzung von Rechtsrockkonzerten

im Rahmen einer "Rechtsrock"-Veranstaltung, von Wolfgang Martin Stroh

(Jugendkulturelle Einordnung) Mit Heitmeyer gehören Rechtsrockkonzerte je nach Typ entweder auf die Stufe 3 ("soziale Verdichtung durch Aufenthalt in Orientierungsmilieus") oder die Stufe 4 ("politische Verfestigung" durch Teilnahme an "konspirativen" Veranstaltungen).

(Psychologische Funktion) Mit Leuschner haben Rechtsrockkonzerte die Funktion, Menschen mit diffusen (politischen) Motive zu homogenisieren und auszurichten. Das bedeutet, aus allgemeinen Motiven, die sich aufgrund gewisser psychischen Bedingungen des Individuums in einer sozialen Situation herausgebildet haben, konkrete Handlungsmotive herauszubilden (z.B. "Gewalthandlungen").

(Widerspiegelung) Rechtsrockkonzerte sind Ausdruck eines "rechten Klimas", das sie nicht selbst erzeugen, sondern aktiv widerspiegeln: sie setzen das "rechte Klima" in die jugendkulturelle Szene hinein fort und reproduzieren es dort nach dem "Zwiebelmodell". Mit Verboten und Zensur täuschen die Verantwortlichen und Profiteure des "rechten Klimas" über diesen Widerspiegelungscharakter hinweg.

(Zwiebelmodell) Rechtsrockkonzerte sind funktional vielschichtig:

(Stabilisierung) Rechtsrockkonzerte sind ein psychisch stabilisierender Faktor der mehrschichtigen rechten Szene:

(Semantik) Die in Rockkonzerten transportierten und reproduzierten Textinhalte sind primär Symbole und können nicht digital-wörtlich genommen werden; die in Konzerten hervorgerufenen Gefühle indessen sind authentisch und eindeutig.

(Politische Organisation) Zwischen Rockkonzerten und Veranstaltungen von Alt- oder Neonazis besteht der denkbar geringste Zusammenhang. Rockkonzerte sind auch kein ergiebiges Agitationsfeld für politisch Bewußte. Zwischen Rockkonzerten und dem "rechten Klima" in Deutschland besteht aber ein direkter Zusammenhang.

(Aggressivität und Angst) Wenn gewaltbereite Menschen singen oder sich mit Musik scheinbar aufstacheln, so hat hierbei Musik keine ursächliche Funktion. Allerdings kann Singen oder Musikhören Reste von Angst, die bei der Planung von Gewalthandlungen auftreten, bearbeiten helfen. Nur insofern ist Musik - indirekt - "gewaltfördernd" (sog. "enthemmende Funktion" von Musik).

Siehe auch Carsten Stöver: empirische Unterschung zu Musik und Aggressivität.