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Szenische Interpretation für den Religions-, Geschichts- und Musikunterricht
von Rainer O. Brinkmann und Wolfgang Martin Stroh
Diese szenische Interpretation ist 2004 an der Staatsoper Berlin Unter den Linden entstanden, als Daniel Barenboim eine Neuinszenierung einstudiert hat. Die Geschichte vom "auserwählten Volk" ist heute nicht ohne Sprengstoff - leider im wörtlichen Sinne! Daniel Barenboim hat sich 2004 mit seinen Kulturinitiativen zur jüdisch-palästinensischen Versöhnung einen Namen gemacht und mehrere Preise dafür erhalten. Wir haben versucht, der biblischen Geschichte, in deren Zentrum Arnold Schönbergs Überzeugung steht, das jüdische Volk sei "auserwählt unter allen Völkern", aktuelle Züge dadurch zu verleihen, dass wir sie so genau wie möglich historisch rekonstruiert haben. Während die erwähnte Inszenierung an der Staatsoper um Aktualisierung bemüht war und beispielsweise den "Verführer" Aron als Bill Gates, das Goldene Kalb als eine ASrt Honegger und die Wüste als Palast der Republik, haben wir uns auf die Frage bezogen, wie die Ideologie des Auserwähltseins "funktioniert" hat, worin ihre mobilisierende Kraft bestand und warum die Befreiung aus ägyptischer Sklaverei gelungen, die Konsolidierung als "Staatsgebilde" aber - bis heute - misslungen ist.
Ganz nebenbei ist diese szenische Interpretation auch eine handlungsorientierte Einführung in Zwölftonmusik und in Schönbergs expressive Tonsprache. Zwölftonmelodien werden gestisch gesungen, Arbeitsvorgänge werden zu Schönbergs vertrackten Sprachstrukturen entwickelt, Sprechchöre werden zu Rhythmicals, der Tanz ums Goldene Kalb als "dynamische Meditation" nachvollzogen. Im Anhang der Buchpublikation befinden sich relativ unbekannte Originaldokumente zu Schönbergs Judentum und seinen "jüdischen Kompositionen".
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Aus dem Vorwort
Bilder
vom Israel-Palästina-Konflikt sind
das täglich Brot eines jeden Zuschauers der Fernsehnachrichten. Auch Schülerinnen
und Schüler werden von diesen Bildern nicht verschont. Scheinbar ausweglos sind
das Auserwählte Volk und die Ureinwohner Kanaans, die Israelis und die Palästinenser,
ineinander verkeilt. Der Urmythos dieses Konflikts ist die Befreiung des Volkes
Israels aus der ägyptischen Sklaverei. Die Befreiung gelang durch die
Vorstellung der versklavten Israeliten, von Gott „auserwählt“ zu sein. -
Kann angesichts dieser Situation die Auseinandersetzung mit Schönbergs „Moses
und Aron“ behilflich sein? Können Schülerinnen und Schüler ihre Deutung der
Oper zu dem, was täglich in Israel und Palästina geschieht, in Beziehung
setzen?
Eine
erste Antwort ist die der möglichst getreuen Reproduktion des historischen
Vorganges. Diese Forderung, die bei der szenischen Interpretation üblicherweise
mit der Rollenschutzthese begründet wird, führte uns im Falle des Textbuches
von Arnold Schönberg zu einer religionskritischen Sicht der Story. Danach wird
deutlich, dass der jüdische Gottesglaube zur Zeit der ägyptischen Knechtschaft
eine „revolutionäre Ideologie“ gewesen ist, die den radikalen Aufstand
gegen die Sklavenhaltergesellschaft beinhaltete. Der Topos des „auserwählten
Volkes“ ist also ein historischer, der eine gewisse Funktion hatte und dabei
erfolgreich war.
Die
zweite Antwort ist die Erkenntnis, dass sich gerade heute die Widersprüchlichkeit
der mosaischen Ideologie politisch aufzeigen und sogar „nutzen“ lässt. Ein
leibhaftiges und ermutigendes Beispiel haben wir aus gegebenem Anlass erfahren.
Im April 2004 hat Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper Unter den Linden
eine Neuinszenierung von „Moses und Aron“ dirigiert. Hierfür sind die
ersten Schulerprobungen des vorliegenden Konzepts von uns entwickelt worden.
Daniel Barenboim, ein in Argentinien geborener Künstler, der 1952 als kleiner
Junge nach Israel übersiedelt ist, hat in den letzen Jahren mit spektakulären
Aktionen das Scheitern der Politik in Sachen jüdisch-arabischen Zusammenlebens
erklärt und die Musik dazu aufgerufen in das dadurch entstandene
Handlungs-Vakuum vorzustoßen. Für seine vielfachen Projekte zur musikalischen
israelisch-arabischen Verständigung ist er 2004 sowohl von deutscher als auch
von israelischer Seite mit Preisen ausgezeichnet worden. Am 10. Mai 2004, kurz
nach der Premiere des Berliner „Moses und Aron“ hat er mit einer Dankesrede
vor dem israelischen Parlament einen Skandal hervorgerufen, als er die
israelischen Politiker an ihr Versprechen von 1949, friedlich mit Palästinensern
im „gelobten Land“ zusammen zu leben, erinnerte (Original als Material SM
21).
Die
vorliegenden Unterrichtsmaterialien sind so aufbereitet, dass sie offen für
interpretierende Konstruktionen der Schüler sind. Wir geben keine Sicht und
Wertung der Ereignisse vor, sondern versetzen die Handelnden in
charakteristische Konflikt- oder Entscheidungssituationen, in denen sie sich
handelnd „verhalten“ können und sollen. Die Auseinandersetzung mit der
Musik ist dabei der wichtigste leitende Rahmen.
Aufgrund
des oratorischen Charakters der Oper haben wir den Ablauf der szenischen
Interpretation mit einem Ritual versehen. An allen einschlägigen Stellen wird
durch eine ritualisierte Lesung eines Tora-Textes sowohl die Story, die beim
gebildeten Opernhörer vorausgesetzt wird, in Erinnerung gerufen als auch ein
gewisser V-Effekt erzeugt. Indem der Tora- bzw. Bibeltext verlesen wird, wird
auf dessen Charakter als Lehrstück hingewiesen. – Ebenfalls dem oratorischen
Charakter der Oper verdankt sich die Tatsache, dass wir die individuellen
Rolleneinfühlungen stark reduziert und demgegenüber ein breites Spektrum
kollektiver Einfühlungsaktivitäten entworfen haben. Im Gegensatz zu allen
bisher in der vorliegenden Reihe erschienenen Musiktheaterstücken sollen die
Schüler „Moses und Aron“ nicht aus einer durchgehend fest gehaltenen
Rollenperspektive erleben. Vielmehr werden in der vorliegenden szenischen
Interpretation die Rollenperspektiven von Einheit zu Einheit gewechselt.
Begleitend
zu den vorliegenden Materialien (inclusive Audio-CD bzw. CD-ROM) sollten das
vollständige Textbuch von „Moses und Aron“ und möglichst auch ein
Klavierauszug vorhanden sein. Das einzige empfehlenswerte Buch über „Moses
und Aron“, das sich nicht in weitschweifigen Kompositionsanalysen oder
religionsphilosophischen Erörterungen ergeht, ist das 1959 geschriebene Buch
„Gotteswort und Magie“ von Karl H. Wörner. Ansonsten enthält die
Internetseite des Schönberg-Archivs Wien (www.schoenberg.at/default.html)
einige sehr brauchbare Kurzinfos zu Inhalt, Entstehung und Musik, die wir im
vorliegenden Buch voraussetzen (http://www.schoenberg.at/6_archiv/music/works/no_op/
compositions_Moses.htm).
Im
vorliegenden Text werden alle Methoden, die sich aus der didaktischen Analyse
ergeben haben, explizit aufgeführt. Einige „spieltechnische Details“ der
szenischen Interpretation sind jedoch nicht immer erwähnt, da sie zum
Routinehandwerkszeug einer Spielleiter gehören. Die einschlägigen Methoden
sind alle im „Methodenkatalog der Szenischen Interpretation von
Musiktheater“ (Lugert-Verlag Oldershausen 2001) aufgeführt, auf den mittels
des Kürzels „MET“ im vorliegenden Text häufig hingewiesen wird.
Zur
Terminologie „Israeliten“ und „Hebräer“: André Neher spricht in seinem Moses-Buch konsequent von
„Hebräern“. Das erscheint wissenschaftlich. Im Alten Testament ist damit
ein Volk gemeint, das sich der (alten) hebräischen Sprache bedient, die zur
semitischen Sprachfamilie gehört. „Israeliten“ sind die um 1400-1200 v.
Chr. in Palästina aus dem Norden und aus Mesopotamien eingewanderten, hebräisch
sprechenden Semiten. Dies sind die Nachfahren („12 Stämme“) Jakobs, der von
Gott den Namen „Israel“ bekam (1. Moses 32). Neben diesen „Israeliten“ zählen
zu den hebräischen Völkern die Edomiter, Midianiter, Aramäer und Joktaniter.
Arnold Schönberg sagt „Volk Israels“, in der Lutherbibel und der von uns
verwendeten (modernen) Tora-Übersetzung heißt es korrekt „die Kinder
Israel(s)“. Für die Ägypter waren die Israeliten wegen Sprache und Kultur
aber eher (spezielle) „Hebräer“ oder (allgemeiner) „Semiten“. Wir
verwenden daher die Bezeichnungen „hebräisch“ oder „Hebräer“, wenn die
ägyptische Außenansicht, „Volk Israels“ oder „Israeliten“, wenn
das Selbstverständnis der aus Ägypten
ausziehenden Hebräer (Semiten) gemeint ist. In Anlehnung an Schönbergs
Terminologie sprechen wir allerdings meist nur vom „Volk“.
Bei
den Diskussionen um das vorliegende Konzept wirkte Johannes Fuchs (Hamburg) mit,
Hilfsgeister bei der ersten Realisierung von Lehrerfortbildungen und Schüler-Workshops
waren Annette Brunk, Robert Strohmeyer und Laura Mitzkus (Berlin). Das
Manuskript hat Aaron Eckstaedt sachkundig durchgesehen. Ralf Nebhuth steuerte
religionspädagogische Erfahrungen bei. All diesen Personen danken wir Stelle
ganz herzlich. Wie immer gilt der besondere Dank aber allen Lehrer, Studenten
und Schüler, die sich als Spielende und Mitdenkende an der bisherigen
Entwicklung produktiv beteiligt haben.