Aus der Einleitung zu "Nadah Brahma" von Joachim Ernst Berendt (TB, S. 10-16)

"Nada Brahma" handelt von einem Neuen Bewußtsein, dessen wachsende Präsenz in diesen Jahren selbst diejenigen spüren, die es ablehnen. Futurologen, Ökologen, Friedensforscher, kybernetisch denkende Wissenschaftler, die noch nicht in ihrem Spezialistentum erstickt sind, Ärzte, die über den Maschendraht ihrer Schulmedizin hinausgehen, sagen uns immer wieder: Es ist 5 vor 12.

In einer Zeit, in der die Menschheit pro Minute 2,3 Millionen Dollar für ihre mögliche Vernichtung ausgibt, ist unser aller Ende "machbar". Und das ist ja unsere Erfahrung: Was immer dem Menschen "machbar" ist, das tut er schließlich. Zuerst haben es nur die Einsichtigen gewußt, inzwischen weiß es fast jeder - und wer es nicht weiß, kann es nahezu jeden Tag in der Zeitung lesen oder spürt es in seiner Arbeit (oder daran, daß er sie verloren hat), am Geldbeutel, an Gesundheit und Lebensqualität, - an all den "Zeichen", die uns beständig gegeben: jährlich verwandelt sich auf dieser Erde eine Fläche von der Größe der Bundesrepublik in Wüste; bis zum Ende des Jahrhunderts werden 60 bis 70 % der Wälder, die bisher unsere Landschaft geprägt haben, verschwunden sein; zwischen 437000 (mindestens!) und 1,4 Millionen biologischer Arten - gerechnet wird mit 60 % aller existierenden - werden bis zum Jahre 2000 unwiederbringlich ausgerottet sein (nachdem vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges nur 100 Säugetiere und 150 Vogelarten durch menschliche Einwirkung getilgt wurden!) - und es ist allenfalls ein Ausdruck des unverwüstlichen menschlichen Optimismus, im übrigen aber unbegreiflich, daß immer noch die Mehrzahl der Menschen glaubt, das allgemeine Sterben werde ausgerechnet vor ihrer eigenen Gattung haltmachen - in einer Zeit, in der der Begriff der megacorpse 1 000 000 Tote! -, von den perversen Gehimen der Militärs geprägt, unaufhaltsam in das Denken der Politiker und Journalisten kriecht.

In den sechziger Jahren ging die Meldung durch die Weltpresse, daß Angehörige des amerikanischen Peace Corps in Tansania und anderen ostafrikanischen Staaten festgestellt hatten: Was sie auch taten, es schlug - trotz allen Geldes, trotz aller Mühe - zum Schlechten aus. Ökonomisch, landwirtschaftlich, industriell, gesellschaftlich, ökologisch verschlimmerte sich die Situation der Länder, denen zu helfen sie eigentlich gekommen waren, immer nochmehr. Die Peace Corps-Leute ließen Computer mit den Daten der Probleme und sämtlichen Hilfs-, Veränderungs- und Verbesserungsvorschlägen füttern zu denen Wissenschaftler und Politiker geraten hatten. Antwort der Computer zu jedem einzelnen Ratschlag: "Verschlechterung!" Ähnliche Antworten gaben Computer, die zu der wachsenden Unregierbarkeit amerikanischer, afrikanischer und asiatischer Großstädte befragt worden waren.

Ich habe mich gleich damals, als ich die Meldung über die Ergebnisse der Peace Corps-Leute las, gefragt, warum die Computer nicht auch mit "Bewußtseinsänderung" gefüttert worden waren, mit jenem neuen Denken und Fühlen, das sich in unserer Zeit kristallisiert und das gewiß weniger "anti-" als "post-wissenschaftlich" ist. Ich bin sicher: Dazu hätten die Computer, gäbe es Menschen, die sie mit einer solchen Möglichkeit sinnvoll hätten programmieren können, als dem einzigen noch möglichen Ausweg ja gesagt.

Wir alle haben es in diesen Jahren dutzendfach gehört und gelesen: Nur ein neues Bewußtsein kann uns noch retten. Aber wir haben auch die Frage gehört: Was kann es nutzen, wenn ich dieses Bewußtsein in meiner eigenen Seele entwickle - durch Umkehr und Umdenken und Meditation und alle die anderen Möglichkeiten, von denen wir wissen -, was nutzt es, daß ich dies tue, mich abkapselnd, immer nur an mir selber arbeitend, wenn sich draußen und um mich herum die Verhältnisse in kaum mehr nachvollziehbaren Progressionen verschlechtern? Kommt es in dieser Situation nicht viel stärker darauf an, anderen zu helfen, bevor ich mir selber helfe? Ist es nicht narzißtisch und egoistisch, mich immer nur mit mir selbst zu beschäftigen? Auch hierzu ist uns die Antwort gegeben - von vielen der weisen Menschen, die in diesem Buch zitiert werden, von den Denkern Asiens und den Zen-Meistem Japans bis zu Hermann Hesse, von Sokrates bis Erich Fromm. Wir sind die Welt. Das heißt: Wir können die Welt nicht verändern, wenn wir zuvor nicht uns selber verändert haben. Jeder andere Weg ist absurd. Er verbessert nicht, sondem verschlechtert, weil wir das, was in uns selber nicht in Ordnung ist, in jede politische, ökonomische, gesellschaftliche. Lösung hineintragen, die wir durchsetzen wollen. Das ist der Grund, warum - wie Hans Magnus Enzensberger einmal gesagt hat - die Projekte des 19. Jahrhunderts von der Geschichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden- sind.

Inwiefern aber können wir die Welt verändern, wenn wir uns selber verändern? Jahrhundertelang war diese Frage nicht zu beantworten. Wir wußten nur, daß es so ist. Alle die großen Umbrüche in historisch überblickbarer Zeit waren z u e r s t Umbrüche des Bewußtseins - leicht erkennbar etwa in Renaissance und Reformation, aber auch vorher schon der Umbruch der Zeitenwende, als aus der Welt der Antike eine neue und andere Welt entstand. Kriege, Revolutionen, neue Lebensstile, Gesellschaftsformen, Entdeckungen - alles beginnt im Kopf.

Was immer sich grundlegend verändert hat, hat sich z u e r s t im Bewußtsein des einzelnen Menschen verändert. Erst danach veränderte sich die Welt, in der die Masse der Menschen lebt.

Vielleicht wissen wir heute, warum das so ist - auch davon handelt dies Buch. "Alles ist Eins", haben die Weisen Asiens und die alten Ägypter gesagt. Man konnte das glauben oder auch nicht glauben. Inzwischen bestätigt die moderne Atomphysik - die Komplexe Relativitätstheorie Jean E. Charons, Erkenntnisse von Physikergruppen in Pasadena und Princeton, die sogenannte Bootstrap-Physik, das Phänomen der Holographie und anderes, über das wir sprechen werden -, daß in der Tat "alles Eins" ist, auf eine unserem Intellekt nicht nachvollziehbare und gleichwohl wissenschaftlich, mathematisch, experimentell zu erhärtende Weise. Wenn aber "alles Eins" ist, dann ändert mein Bewußtsein - dann ändert das Bewußtsein von e i n e m Menschen das Bewußtsein von t a u s e n d Menschen, und das Bewußtsein von einer Million Menschen kann das Bewußtsein von 100 Millionen, das Bewußtsein von 100 Millionen das Bewußtsein von einer Milliarde Menschen verändern. [...]

Viele hervorragende Denker, Wissenschaftler, Psychologen, Philosophen und Schriftsteller haben das Neue Bewußtsein beschrieben und umschrieben. Es gibt eine ganze Literatur darüber. Aber noch nirgendwo ist gesagt, was auch zu seiner Kennzeichnung gehört: daß es ein Bewußtsein hörender Menschen sein wird, will sagen: Nicht mehr das Auge wird - wie allgemein heute - Vorrang vor dem Ohr haben, sondern umgekehrt das Ohr Vorrang vor Auge haben. Das Hörbare, der Klang, wird wichtiger sein als das Sichtbare (und nur um die Relation geht es: um die Unverhältnismäßigkeit unserer Augen-Bevorzugung, denn Auge und Ohr sind unverzichtbare Organe).

Der sehende Mensch analysiert, er zerlegt in Teile - wie sofort deutlich wird, wenn man das Sehen auf die Spitze treibt: beim Blick durch Elektronenmikroskope. Da zerfällt sogar noch das, was "unteilbar- scheint. Das Auge ist etwas Wunderbares, aber je besser es ist, desto schärfer ist es, und Schärfe ist eine Qualität des Messers und des Schneidens. Der - vorrangig - sehende Mensch hat jenen Exzeß der Rationalität herbeigeführt, dessen Zusammenbruch wir gegenwärtig erleben. Im Zeitalter des Fernsehens führt sich der sehende Mensch selbst ad absurdum. Er sieht nicht mehr die Welt, sondern nur noch ihr Abbild - und ist damit auf eine unbegreifliche Weise zufrieden.

Symbol des Ohres ist die Muschel, die ihrerseits das weibliche Geschlechtsorgan symbolisiert - ein Symbol des Empfangens und Aufnehmens; das Leben wird nicht analysiert, es wird als Ganzes in sich aufgenommen, es wird - im Sinne des Schweizer Philosophen Jan Gebser - "wahr"-genommen.

Aber das Ohr mißt auch - und tut dies genauer und sorgfältiger als Auge und Tastsinn -, wie physiologisch, physikalisch und mathematisch nachgewiesen wurde (und wie wir in diesem Buch zeigen werden). Bereits für die Chinesen war das Auge ein Yang-Sinn: männlich, aggressiv, herrschend, verstandesorientiert, die Oberfläche betrachtend, zerlegend - während das Ohr der Yin-Sinn ist: weiblich, empfangend, helfend, intuitiv und spirituell, ins Innere dringend, das Ganze als Eines wahrnehmend.

Es ist eine Yin-Wahrnehmungs- und Darstellungsweise, die in "Nada Brahma" nicht nur gefördert, sondem auch schreibend zu geben versucht wird. Dieses Buch ist das Buch eines hörenden Menschen. Das Ganze ist ihm wichtiger als seine Teile. Synthese ist wichtiger als Analyse. Zusammenhang wichtiger als Spezialisation.

Und doch müssen viele Teile bewußt sein, um "Ganzes" wahrnehmen zu können. Für "viele Teile" ist das Wissen eines einzelnen Menschen notwendig begrenzt. Ich muß das zugeben, aber das darf nicht - wie es gar zu oft in der Vergangenheit geschehen ist dazu führen, das Feld - wieder einmal! - den Spezialisten zu überlassen, samt ihrer häufig demonstrierten Fähigkeit, das Ganze aus den Augen zu verlieren. Auch unser Unvermögen darf uns nicht hindern, "das Ganze als Eines" verstehen und deshalb auch darstellen zu wollen. "Hinter dem Teilen ist immer etwas Ungeteiltes. Hinter dem Bestreitbaren etwas Unbestreitbares."

Ein Ausgangspunkt war mein Interesse am Hören: meine Erfahrung, daß sich der moderne Mensch zu einer solchen Hypertrophie des Optischen verstiegen hat, daß er nicht mehr adäquat hören kann. Ich wollte ein Buch über das Hören schreiben, aber - und mich selber hat das zunächst gewundert - es ist auch ein spirituelles Buch geworden. Es wird deutlich werden, warum das so ist und zwangsläufig so sein muß. Der Verfall unseres Hörsinnes läuft auffällig parallel mit der Säkularisierung - mit dem, was man die "Abkopplung des westlichen Menschen von Gott" genannt hat.

Das Feld des Gesehenen ist Oberfläche. Der Bereich des Gehörten ist Tiefe. Das Auge tastet Flächen ab. Nichts aber kann durch das Ohr wahrgenommen werden, was nicht eindringt. ja, auch dann, wenn etwas nur oberflächlich gehört wird, muß es immer noch tiefer eindringen als der Blick, der in die Oberfläche, die allein er wahrnehmen kann, überhaupt nicht hinein kann. Der hörende Mensch also hat mehr Chancen, in die Tiefe zu dringen, als der sehende.

Was immer in diesen Jahren über das Neue Bewußtsein gesagt worden ist, ist richtig und wesentlich, aber eines wurde vergessen: Der Neue Mensch wird ein hörender Mensch sein - oder er wird nicht sein. Er wird in einem Maße Klänge wahrnehmen, von dem wir uns heute noch keine Vorstellung machen können. Von diesen Klängen handelt "Nada Brahma". Diese Klänge sind "Nada Brahma".

Die tiefere Veränderung unseres Bewußtseins wird dadurch ausgelöst, daß wir uns endlich das Ohr und das Hören in dem Maße erschließen, in dem das Auge und das Sehen ohnehin in unserer Kultur erschlossen sind. Wenn wir wieder gelernt haben zu hören, dann werden wir auch unsere Hypertrophie des Auges korrigieren können. Dann werden wir verstehen können, daß - so hat Goethe, der Augenmensch, es gefordert - "die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbeizuschauen."