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Jazz und Weltmusik und Joachim Ernst Berendt

Sieben Weltmusik-Konzepte:

  1. Die Vorstellung, dass vor allem europäisch-westliche KomponistInnen ihre Tonsprache und ihren Horizont durch Begegnungen mit anderen Musikkulturen erweitern. Entstehung des Terminus „Weltmusik". Prototyp: Debussy, später Orff. Georg Capellen 1906 in Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer Neuen Kunstentwicklung: „Ein vorurteilsloses Studium der neueren Musikliteratur lässt Zweifel aufkommen an der Unerschöpflichkeit europäischer Melodik, Tonalität und Rhythmik... durch die Vermählung von Orient und Okzident gelangen wir zu dem neuen exotischen Musikstil, zur Weltmusik, die je nach der nationalen und individuellen Veranlagung des Schaffenden in den verschiedensten Nuancen schillern wird" (S. 46).
  2. Die Feststellung, dass sich die abendländische Musik „über die ganze Welt ausbreitet" (Wiora Vier Weltalter der Musik, 1961): „auch andere Länder, wie Südafrika, Australien und Neuseeland haben in Konzert, Rundfunk, Pädagogik usw. eine volle Musikkultur moderner Art aufgebaut".
  3. Der Wunsch europäisch-westlicher Musiker, neue (oder eventuell im Abendland durch Kirche, Zivilisation etc.) verschüttete „Bewußtseinsschichten" durch die Begegnung mit den Musikkulturen der Welt zu heben. Stockhausen 1968 zu Telemusik: "...daß man aus der Nationalsphäre der Musik und der rein persönlichen Sphäre, aus der individualistischen Musik herauswächst, ...daß dieser ganze Globus ein einziges Dorf ist. Und dadurch kommen Bewußtseinsschichten hoch, die einfach geschlafen haben".
  4. Das Konzept der „integralen Musik" Peter Michael Hamels, das auf Jean Gebsers Theorie der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins beruht. Gebsers Modell besagt, dass „wir" uns derzeit im Übergang zum „integralen Bewußtsein" befinden. Hamel stellt das „integrale Musikbewußtsein" in heutiger intuitiver Musikpraxis (Improvisation, tiefe Selbsterfahrung gewisser Musiker, Tendenzen der Avantgarde, Free Jazz – und seinem eignen Konzept der „integralen Musik") fest (P. M. Hamel: Durch Musik zum Selbst, 1976, S. 21-36).
  5. Jazz ist die erste, genuine Art Weltmusik (Berendt in „Die neue Religiosität", 1977). Siehe später!
  6. Die musikindustrielle Globalisierung, vor allem im Bereich der Popmusik. 1987 in London Festlegung von „World Music" als einer Sparte der Plattenindustrie, die das umfassen sollte, was weder „International Pop" noch „Ethnische Musik" umfasste, primär „Afrorock". Vorläufer WOMAD seit 1982, „Trikont: Our Voice" seit 1971.
  7. UNESCO: friedliche Koexistenz aller Weltkulturen, die von der UNESCO „geschützt", dokumentiert (kurz vor dem Aussterben für die Nachwelt aufbewahrt) und allen zugänglich gemacht werden. (Deklaration des Int. Music Councils der UNESCO vom 3.10.1991 Music of the World: Aspects of Documentation, Mass Media und Acculturation.)

„Das Wunder Bali", in: Ein Fenster aus Jazz (1978). Berendt kam 1967 erstmals nach Djakarta (Java), wo er die „Indonesian All Stars" zusammenstellt.

„Warum erzähle ich das alles in einem Jazzbuch? Weil auch das zum Wesen des Jazz gehört, daß er seine Hörer öffnet für die Sounds, für den Reichtum an musikalischen Kulturen in der Welt – gerade auch für eine Musik, die so viel Gemeinsames mit dem Jazz hat wie die balinesische. In der Welle der Entdeckungen der großen exotischen Musikkulturen, die es seit dem Ende der sechziger Jahre gibt, sind es immer die Jazzmusiker gewesen, die den anderen um ein rundes Jahrzehnt voraus waren – wie nicht zuletzt Ravi Shankar bestätigt hat. Ich bin sicher, dass die balinesische Musik den Jazzmusikern so viel zu bieten hat wie die indische. Nur ist die balinesische schwerer zugänglich, von unserer westlichen noch weiter entfernt."

„Indonesische" Produktionen, die Berendt geleitet oder initiiert hat:


Jazz-Streit um die Ideologie der Weltmusik

Joachim Ernst Berendt: Über Weltmusik. In: Weltbeat. Ja-Buch für Globe-HörerInnen, hg. von Jean Trouillet und Werner Pieper. Der Grüne Zweig 132, Löhrbach 1988 (bei Zweitausendeins Ffm. 1988)

"Das Wort 'challenge' ist ein Schlüsselbegriff in der zeitgenössischen (musik)ethnologischen, anthropologischen und biologischen Forschung geworden. Es wird angewandt auf genetische und kulturelle Begegnungen, die die Begegnenden 'fordern'. In der Situation der 'challenge' wachsen sie aneinander. ...Der neuen Idee der 'challenge' stehen die konservativen (musik)ethnologischen Ideen von der Reinhaltung der Kulturen und Rassen gegenüber. Sie sind im ausgehenden 18. Jahrhundert entstanden und haben sich in der europäischen Geistesgeschichte in bemerkenswerter Einträchtigkeit parallel zueinander entwickelt.

... Nur wurde die eine - die rassistische - durch den Rassenwahnsinn der Nazis auf furchtbare Weise ad absurdum geführt und als das erkannt, was sie ist: als faschistoid, während die Idee der kulturellen Reinhaltung - nicht zufällig seit je von nationalistischen Folklore Vereinen emsig propagiert - erst heute als latent faschistoid durchschaut wird" (S. 16).

Die klassische Musikethnologie fürchtet den „Einheitsbrei". Sie fragt: werden die Unterschiede nicht abgeschliffen? ... Je intensiver die Vermischung, desto differenzierter, reicher, kreativer das Ergebnis. Der Einheitsbrei ist gewiß nicht eine Fiktion, denn es gibt ihn ja, aber er ist genau dies: ein zu vernachlässigendes Nebenprodukt. Wenn dennoch immer wieder die Gefahren des Einheitsbreis heraufbeschworen werden, so sollten wir versuchen, dies zu durchschauen: als einen ideologisch konditionierten, kulturellen Reinheitsfetischismus, der letztlich faschistoid ist. Es ist bedauerlich, dass es so viele Ethnologen gibt, die dies nicht erkennen.

Peter Niklas Wilson: Die Ratio des Irrationalismus. In: Die Musik der achtziger Jahre, hg. von Ekkehard Jost. Schott, Mainz 1999. (Institut für Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 31.)

"Die gegenwärtigen politischen Strukturen forcieren ebenso kulturellen wie ökologischen Raubbau am Weltganzen, und wer das nicht sieht oder es, wie Berendt, als für alle Seiten bereichernden Kulturaustausch mißdeutet, hat offenbar den Begriff 'Macht' aus seinem harmonistischen Denkrepertoire gestrichen... Gerade um die Frage politischer und damit auch kultureller Herrschaft aber geht es, wenn man von Weltmusik redet. Denn auch da, wo musikalische Traditionen nicht längst ausgerottet wurden, wird mit ihren Relikten von westlicher Seite - und gerade auch von Leuten, die den Begriff 'Weltmusik' im Munde führen - mit einer Fahrlässigkeit, mit einer eurozentristisch kolonialistischen Attitüde umgegangen, die zeigt, daß da die kulturelle Autonomie der sogenannten 'Dritten Welt' ebensowenig respektiert wird, wie 'unsere' Politiker die materiellen Grundbedürfnisse der dort lebenden Menschen ernst nehmen" (Wilson 1990, 76).

Von Berendt am häufigsten zitierten „Jazz-Weltmusik"-Musiker:

Stichworte zum Weiterdenken