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Drei Text: aus Berendts Autobiografie Selbstreflexion - zur Musikwissenschaft - sowie ein Text von Wolfgang Martin Stroh zum Thema "Gibt es eine andere Musikwissenschaft" (vollständig online über BIS Oldenburg)

Berendt - aus seiner Autobiografie:

Musiker

Mit keinem Menschenschlag fühle ich mich so verbunden, mit keiner anderen Art Menschen so wohl wie mit Musikern. Immer wenn ich Freund eines Musikers gewesen bin, war ich ein wenig auch selber Musiker.Wenn ich Platten produzierte, war ich immer auch selber ein wenig einer der Spielenden. Deshalb habe ich diese Arbeit getan - Platten aufgenommen, Festivals geleitet, Rundfunk- und Fernsehaufnahmen gemacht: weil ich bei dieser Tätigkeit immer selber "wie" ein Musiker handeln konnte. Ich hatte es richtig erkannt: Ich wäre nie ein hervorragender Pianist geworden, aber wahrscheinlich bin ich ein ganz ordentlicher Schriftsteller und Produzent geworden. Die Komplikation liegt darin, daß man als producer nicht mehr auf einem Instrument spielt, sondern - gleichsam - "auf" Menschen.

Kritiker

alle großen Komponisten sind tief spirituelle Menschen - von Claudio Monteverdi und Johann Sebastian Bach bis Mahler, Schönberg, Webern, Alban Berg, Messiaen, Ligeti und darüber hinaus. Spiritualität ist die wichtigste Triebkraft in der Musik innerhalb und außerhalb des Abendlandes - so wichtig wie außer ihr nur noch die Liebe. Ja, wenn man die beiden gegeneinander abwiegt, ist zu erkennen: Das Erahnen der Transzendenz, der Glaube an Gott, sein Lob und seine Verehrung haben noch mehr große musikalische Werke motiviert als die Liebe.

Nicht nur religiöse Werke können spirituell sein. Auch Symphonien, Sonaten und Streichquartette sind es: Beethovens späte Quartette, Schuberts posthume Maviersonaten, Alban Bergs Violinkonzert... Mahlers gesamtes symphonisches Werk kreist um Sterben und Auferstehung. Wagners »Götterdämmerung«, »Parsifal« und »Tristan« werden mißverstanden, wenn ihre Spiritualität nicht gehört und gesehen wird. Nonos Spätwerk klopft an die Pforten des Transzendenten (was viele seiner Verehrer seltsame Haken schlagen läßt).

Auf der anderen Seite die Kritiker: In der überwiegenden Mehrzahl sind sie areligiös, agnostisch, atheistisch - ohne jegliches Bewußtsein von Spiritualität und Religiosität, im Gegenteil erfüllt von dem Hochmut, hoch und mutig über allem zu stehen, was auch nur im geringsten spirituell und religiös wäre (was ja zwei verschiedene Dinge sind, aber oft wissen sie nicht einmal dies). Einer von ihnen nannte Messiaen »konfessionell": einen Komponisten, der alle Konfessionen - von den Upanischaden und von Buddha bis Jesus Christus - transzendiert!

Wie wollen Kritiker dem Werk der großen schöpferischen Kornponisten gerecht werden, was maßen sie sich an, darüber zu schreiben, wenn sie (fast) alle auf dem spirituellen Auge blind und dem spirituellen Ohr taub sind?

lch weiß - es gibt Ausnahmen. Dennoch ist die Diskrepanz unübersehbar. Ich frage mich, wie man das macht, über Musik zu schreiben, wenn man zu den entscheidenden Triebkräften im Werk großer Komponisten nichts zu sagen weiß, ja sie ablehnt. Ich spüre Zynismus darin - der auch in der Sprache spürbar wird - einer, zugegeben, oft brillanten, glitzernden Sprache. Verpuffend wie Feuerwerk. Ein Sich-Verstecken hinter der eigenen Aggressivität. Ein Benutzen der Musik, um zu blenden. Fast nichts bleibt außer der Leere, dem Verpassen des Eigentlichen.

Musikkritik ist darüber beliebig geworden. Ich habe noch Kritiker gekannt, die Wesentliches zu sagen wußten - und dabei spannend zu lesen waren. H. H. Stuckenschmidt, Heinrich Strobel, K. H. Ruppel ... In den USA gibt es sie noch immer. In Deutschland, von Joachi(n Kaiser abgesehen (der wie ein Nachfahre in unsere Zeit reicht): nichts. Ich hörte Boulez dirigieren in Straßburg. Versteht sich: grandios. Ich traf einen bekannten deutschen Kritiker. »Schreibst du darüber?« fragte ich. - »Was willst du noch schreiben?« winkte er ab, »ist doch alles schon gesagt.« Drei Tage später las ich sein vier Kolumnen langes Feuilleton über eben dieses Ereignis.

Solche Kritik dient nicht. Sie macht die Musik sich dienen.


"Gibt es eine andere Musikwissenschaft ?" von Wolfgang Martin Stroh (aus: Oldenburger Universitätsrden 41, Oldenburg 1991)

Musik als eine "andere Erfahrung"?

Die moderne Wissenschaft, die uns den Zustand der heutigen Industrie-gesellschaften in Ost und West mitbeschert hat, vermittelt, sobald sie sich mit einem Gegenstand beschäftigt, ganz spezifische Erfahrungen über diesen Gegenstand: wissenschaftliche Erfahrungen. MusikwissenschaftlerInnen wissen, wie schwer der Prozeß der wissenschaftlichen Erfahrungs-Vermittlung im Falle des Gegenstandes Musik ist. Immer wieder muß sich unsere Zunft gerade auch vor MusikerInnen legitimieren, warum sie es nicht aufgibt, wissenschaftliche Erfahrungen über einen Gegenstand vermitteln zu wollen, der ja selbst - ohne wissenschaftliche Vermittlung - so vielfältige und direkte Erfahrungen zu vermitteln imstande ist!

Musik ist wohl seit eh und jeh - heute jedoch in ganz besonders breiter Weise -

- ein Ausdruck der Sehnsucht nach anderen Erfahrungen als denjenigen, die die herrschende Wissenschaft vermittelt,

- ein Hilfsmittel, andere Erfahrungen geistiger, körperlicher, esoterischer, sexueller, kommunikativer Art zu befördern und

- selbst eine Art anderer Erfahrung.

Ich möchte die These aufstellen, daß diese besondere Eigenschaft von Musik dafür verantwortlich zu machen ist, daß sich die Musikwissenschaft im Zustand einer heilsamen Daueridentitätskrise befindet. Nicht nur eine vielleicht doch weit weg liegende Herausforderung durch östliche Weisheiten, sondern Eigenschaften der Musik (in Ost und West) selbst stellen daher die Frage, ob es eine Musikwissenschaft geben kann, die

- die Musik im Zusammenhang mit der Suche nach anderen Erfahrungen nicht mißversteht,

- die entsprechenden Eigenschaften von Musik nicht zerstört,

- und diese besonderen Eigenschaften für die westlichen Menschen nutzbringend und kritisch fördert.

Musikwissenschaft, die diese drei Bedingungen erfüllen würde, möchte ich die andere Musikwissenschaft nennen. Zu bewähren hätte sich diese andere Musikwissenschaft nicht nur durch ein adäquates Verstehen aller heute geläufigen esoterischen musikalischen Handlungen, nicht nur durch eine überzeugende Interpretation der mitteleuropäischen Musikgeschichte, sondern auch durch eine andere Sicht jener Probleme und Gegenstände, die die Systematische Musikwissenschaft seit ihrer Gründung durch Pythagoras bearbeitet oder bewußt nicht bearbeitet hat. Insofern ist die andere Musikwissenschaft weder eine alternative, noch eine Anti-Wissenschaft, sondern eher Inbegriff menschlichen Bemühens um eine systematische Art der Erfahrungserweiterung, die als Spezial- und Grenzfall die traditionelle westliche Musikwissenschaft enthält.

Daß die sogenannte esoterische Wissenschaft nicht notwendig die andere Musikwissenschaft repräsentiert, möge das Beispiel der harmonikalen Forschung, die ja eine ehrwürdige Traditionslinie der Systematischen Musikwissenschaft darstellt, zeigen:

Die Basis der harmonikalen Forschung ist der wesenhafte Zusammenhang von Musik und Zahl, den Pythagoras mittels eines empirischen Experiments in einer Schmiedewerkstatt gefunden haben soll. Im Sinne eines "Weltbildes" reicht dieser Zusammenhang indes noch weiter. Nicht nur das Wesen der Musik, sondern auch das Wesen der Welt "ist" Zahl und damit Ordnung. Musik bringe dies Wesen besonders unmittelbar - als Harmonie - zur Erscheinung [was Hegel anerkennt, wenn er Pythagoras zitiert, und was sogar Schopenhauers Musikphilosophie mitumfaßt]. Aber auch der Kosmos, die Natur des Menschen, die Innenwelt der Atome enthalten dies Wesen. Die harmonikale Forschung kehrt nun genauso, wie es Robert Monroe bei der Entwicklung seiner Brain Machines getan hat, die Logik dieses Zusammenhang um. Aufgrund der mehr oder weniger exakt bestimmten empirischen Eigenschaften von Musik und Welt werden Handlungsanweisungen für die musikalische Tätigkeit von Menschen entworfen. Und dies ist das westliche Mißverständnis: die Umkehr von empirischer Beobachtung und Messung in Moral, Ethik oder Kommerz. Im Sinne der anderen Musikwissenschaft hingegen, wäre solch ein Mißverständnis zu ersetzen durch ein systematisches Bemühen um die Erweiterung harmonikaler Erfahrungen mit Musik.

Eigenschaften der "anderen Musikwissenschaft"

Eine Musikwissenschaft, die sämtliche Wesenszüge - inclusive der im vorigen Abschnitt erwähnten - nicht mißversteht und zerstört, sondern nutzbringend und kritisch fördert, muß vier Eigenschaften besitzen, die schon seit längerem diskutiert werden und daher keinen Anspruch auf absolute Neuigkeit und Originalität erheben. Es ist allerdings zu erwarten, daß diese notwendigen Eigenschaften zur Charakterisierung der anderen Musikwissenschaft nicht hinreichen. Indessen meine ich, daß, wer bereit ist, die notwendigen Bedingungen zu erfüllen, zumindest auf dem Wege ist. Und mehr wird man von der anderen Musikwissenschaft auch nicht verlangen können.

1. Das Verhältnis des Forschungssubjetks zum Forschungsobjekt ist neu zu bestimmen. Die Trennung von Subjekt und Objekt sollte ein Grenzfall eines anderen Verhältnisses sein, das sich in der Methodendiskussion der letzten Jahre unter Stichworten wie teilnehmende Beobachtung, Handlungsforschung, projektartiges Forschen als Wunsch angebahnt hat. Die musikpädagogische Unterrichtsforschung hat beispielsweise den Satz Werner Heisenbergs bestätigt, daß die beobachtete Situation eine andere als die unbeobachtete ist und jede Beobachtung eine Interaktion zwischen BeobachterIn und Beobachtetem darstellt. Jede Beobachtung ist mit einer "Unschärfe" behaftet, da, je genauer beobachtet wird, die Veränderung des Beobachteten durch die Beobachtung umso größer wird. Auch im Falle des in Hamburg entwickelten Polaritätsprofils ist von Anfang an diskutiert worden, daß durch ein derartiges Verfahren nicht das "musikalische Verhalten" von Menschen, sondern die Reaktion von Menschen auf die Vokabeln des Polaritätsprofils gemessen wird. Während also die exakte (Musik-)Wissenschaft das Verhalten von Menschen nur unter Versuchsbedingungen und damit diese Bedingungen selbst mißt, müßte die andere Wissenschaft die Interaktion zwischen Beobachtetem und BeobachterIn und die Heisenbergsche Meßunschärfe akzeptieren und als besonderen Erfahrungswert zu schätzen lernen.

2. Eine Zerstückelung des Forschungsgegenstandes durch den analysierenden Forschungsprozeß ist unzulässig. Es ist bekannt, daß und wie isolierte Parameter sich zwar gut einzeln analysieren lassen, ein nachträgliches Zusammensetzen der Einzelergebnisse aber kein Bild vom Ganzen ergibt, das die/den Analysierende/n motiviert hat, die Analyse vorzunehmen. Die Forderung nach einer "ganzheitlichen" wissenschaft- lichen Herangehensweise an den Gegenstand Musik ist daher sehr alt, aber wegen vieler Detailprobleme im Grunde noch nicht operationalisiert. Dabei hat gerade auch die Formanalyse oft Ergebnisse erbracht, die holistische Konzeptionen beinhalteten: etwa dann, wenn bei Bach-Inventionen, Beethoven-Sinfonien oder bei Webern-Aphorismen festgestellt wurde, daß jedes auch noch so kleine Teil die Idee des Ganzen auch strukturell enthält. Die andere Musikwissenschaft sollte die Zerstückelung und Analyse von Teilen verstärkt und methodisch verantwortungsvoll, eben holistisch betreiben.

3. Der wissenschaftliche Prozeß und die wissenschaftliche Erkenntnis darf die Komplexität des Gegenstandes nicht zerstören. Alle Forschungsprozesse lassen sich "thermodynamisch" als eine Verringerung von Unordnung bzw.der Komplexität von Wirklichkeit auffassen. Bereits die Auswahl eines Gegenstandes reduziert Komplexität, sodann spezifische wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden, sodann der Forschungsprozeß selbst und noch einmal die Darstellung der Ergebnisses dieses Prozesses. Jede musikwissenschaftliche Analyse eines Musikstücks und jede wissenschaftliche Darstellung eines musikbezogenen Problems ordnet und systematisiert etwas, was in Wirklichkeit in komplexer Form, quasi ungeordnet vorliegt. Die andere Musikwissenschaft sollte solche Unordnung als ein kreatives und produktives Moment des Erkenntnisprozesses einsetzen, sollte dabei von ihrem Gegenstand (Musik) lernen. Auch hier gibt es längst eine wissenschaftliche Diskussion, die heute unter dem Stichwort Chaosforschung und Chaostheorie abgehandelt wird. Danach ist Chaos nicht nur das Gegenstück von Ordnung bzw. deren Auflösung, sondern auch die Voraussetzung von Ordnung in dem Sinne, daß jeder Sprung zu höherer Ordnung einen chaotischen Zustand voraussetzt.

4. Die Vermittlung wissenschaftlicher Erfahrungen über den Gegenstand Musik kann nicht ausschließlich sprachlich diskursiv sein. Musik gilt ja bei so gut wie allen kommunikationstheoretisch argumentierenden MusikwissenschaftlerInnen als eine besondere Mitteilungsform, die nicht-sprachlich ist und deren Mitteilungen sich auch nicht in Sprache umformulieren lassen. Insofern liegt es natürlich nahe, von der Musik selbst zu lernen und zu fordern, daß die musikwissenschaftliche Vermittlung von der besonderen Mitteilungsform Musik lernt. Dies braucht nicht zu bedeuten, daß alle Ergebnisse musikwissenschaftlicher Tätigkeit sich in Musikstücke oder sonstige musikpraktische Handlungen umsetzen lassen sollten. Dies sollte aber dazu herausfordern, daß die andere Musikwissenschaft ihre Vermittlungstätigkeit an dem Anspruch, den die Musik als besondere Form von Mitteilung selbst erhebt, zu messen bereit ist. Unter der Bezeichnung Intuition kann der

qualitative Umschlag eines schrittweise, rational-analytischen Erkenntnisprozesses in einen ganzheitlichen bezeichnet werden. Die Mitteilungsform Sprache sollte ein wichtiger und für bestimmte Formen des Diskurses notwendiger Grenzfall sein, der für bestimmte Mitteilungsaufgaben eingesetzt wird.

Diese vier Eigenschaften sind vier Seiten einer Sache. Mit den modischen Begriffen wie Unschärfe, Holismus, Chaos und Intuition, deren ich mich bewußt bedient habe, um den Gesamtzusammenhang anzudeuten, auf dessen Hintergrund sich die andere Musikwissenschaft abzuspielen hätte, wird ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel gefordert, auf den die Naturwissenschaften im Gefolge Einsteins und Heisenbergs drängen. Mein Kommentar zu dieser Paradigmenwechsel-Diskussion ist, daß die Musik schon seit eh und jeh im Pythagoreisch-Newtonschen Zeitalter die Sehnsucht der Menschen nach jenem Anderen, das den Paradigmenwechsel einläuten soll, zum Ausdruck gebracht hat.


Berendt aus der Autobiografie

Für mich hat Musikwissenschaft, wie sie sich heute darstellt, drei schwerwiegende handicaps. Das erste ist die Spiritualität fast aller großen Komponisten der abendländischen Musik, ja überhaupt fast aller großen Musiker aller Kulturen. Spiritualität transzendiert Religiosität. Sie ist die bei weitem stärkste Motivitation in der Entstehung großer Musik - von Monteverdi und Bach bis Webern und Coltrane, in außereuropäischer Musik ebenso stark. Wissenschaft, wie sie an den meisten Universitäten und Hochschulen betrieben wird, hat keinen Zugang dazu, ja hält beides - Religiosität und Spiritualität - für »Aberglauben«, verpaßt also die wohl wichtigste Schubkraft im Schaffen bedeutender Musiker.

Zweitens sind Musikwissenschaftler zu stark auf die Technik fixiert, die ein Komponist anwendet. Technik ist ein Vehikel des Komponierens. Sie dient dem schöpferischen Prozeß, sie transportiert ihn. Man kann auch sagen: Sie kanalisiert und strukturiert Kreativität. Schönberg schrieb große, Musik, unabhängig von seiner Kompositionstechnik, ob er nun spätromantisch oder zwölftönig oder in einer Mischung aus beiden komponierte - vielleicht, wie im Fall seiner Orchestervariationen, gar ein wenig klassizistisch. Und dennoch bleibt »Schönberg« stets spürbar. Ähnlich bei Alban Berg oder Webern.

Für den Hörer - und für das Urteil der Geschichte - ist Technik vielleicht eine interessante, aber stets doch nur eine zusätzliche, sekundäre Information. Entscheidend sind die Ingeniosität, die Kreativität, die Originalität, die Fülle und Intensität der Einfälle eines Musikers. Und ganz gewiß ist sein Weltbild wichtiger als seine Technik. Weil Musikwissenschaftler sich schwer tun mit alledem, stürzen sie sich zu sehr auf Technisches, benutzen es gar als Kriterium, was es zuallerletzt ist.

Das dritte handicap - auch dies eine Adorno-Hypothek - ist das immer noch weitergeschleppte dictum, daß eine wirklich moderne Musik, wenn sie nicht zwölftönig, seriell, »atonal« sei, als Kunst zweitrangig sei. In den fünfziger und sechziger Jahren neigte auch ich in diese Richtung. Damals bestand Grund dazu. Was immer innerhalb der herkömmlichen Funktionalharmonik möglich schien, hatten Wassik, Romantik, Impressionismus offenbar doch erschöpft. Inzwischen quillt die musikalische Szene über von einer neuen Musik, die alle Kriterien des Neuen und Zeitgenössischen erfüllt und dennoch »harmonisch« ist: von Reich und Glass bis Schnittke und Pärt, von Henze und Messiaen (sie freilich damals schon, aber doch eher angesiedelt in einer Nische) bis Peter Maxwell Davies und John Adams, von Heinz Otte bis Peter Michael Hamel und Edison Denissow undundundund ...Dieser Entwicklung gegenüber sind die Etiketten der Musikwissenschaft unangemessen: postmodern, neo-romantisch, neo-klassizistisch... Die meisten der heutigen jungen Komponisten verfügen über die ganze Musik. Wollen sich nicht mehr diktieren lassen: Dies gehört dorthin und dies hierher, dies ist erlaubt und jenes nicht.

Der Verstand will verstehen. Und das Verstehen tut, was das Wort sagt: Es verstellt. Wer von einer Musik sagt, er verstehe sie nicht, offenbart dadurch, daß er den Zugang auf dem falschen Weg sucht. Musik will nicht verstanden, sondern erfahren werden. John Cage ging noch weiter: in seinem Text gegen den »Vormarsch des Verstehens« erläuterte er die Vorzüge, »angesichts der Kunst unwissend zu bleiben«.