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Alex Wichern: „Musicos sin fronteras. Ein soziales Musikprojekt in Ecuador...“

Die vorliegende Arbeit untersucht die derzeit viel diskutierte Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen Musik eine Form von Sozialarbeit sein kann. Neben zahlreichen Sonntagsreden zu dieser Frage und neben den wenigen harten empirischen Untersuchungen nimmt die vorliegende Arbeit eine besondere Stellung ein: sie ist einerseits durch das höchst brisante „Setting“ und andererseits durch einen Vielfalt methodischen Herangehens gekennzeichnet.

Denkt man an die Bastian-Untersuchungen aus Berlin, so wurde dort in einem extrem geschützten Raum anhand von Fragebogen die „soziale Integration“ ermittelt und einen Zunahme derselben bei erweitertem Musikunterricht konstatiert; denkt man an Projekte wie die Musikschule von „Pan y arte“ in Nicaragua, so wird hier auf einer theorielosen Ebene von pausenlosen Erfolgen berichtet, ohne dass auch nur ein Ansatz von Evaluation oder Selbstkritik stattfinden würde.

Das Projekt von „Musicos sin fronteras“ ist eine höchst aufregende „Geschichte“. Angesiedelt in einem von Kriminalität und dem Aus-den-Fugen-Geraten elementarer menschlicher Werte gezeichneten Elendsviertel, das weitgehend als „abgeschrieben“ gilt, geben im Schutze einheimischer Familien einige unerschrockene Musikstudent/innen aus Deutschland Instrumentalunterricht, organisieren Konzerte und leben sich in ein ihnen vollkommen fremdes Milieu durch ihre musikalische Tätigkeit erfolgreich ein. „Unerschrocken“ ist das Herangehen in vielfacher Beziehung: Einmal im Hinblick auf die eklatanten Gefahren für Leib und Leben an diesem Ort, dann im Hinblick auf ein musikpädagogisches Konzept und schließlich ohne tief gehende Kenntnis oder Auseinandersetzung mit Deutscher Entwicklungshilfe. Dass das Projekt dennoch weitgehend gelingt, dass keiner der Beteiligten zu mehr als materiellem Schaden kommt und dass eine größere Anzahl Jugendlicher motiviert musiziert und offensichtlich auch nach der Abreise der Ausländer weiter macht, ist nicht nur erstaunlich, sondern in gewissem Sinne auch eine der wichtigsten Wirkungen von Musik.

mog2007

Die Oldenburger „Musiker ohne Grenzen“ (2007) in Guasmo Sur (Ecuador), wo sie unter der Dachorganisation „Asociación Movimiento Mi Cometa“ am Aufbau einer Musikschule mitwirkten. Die vorliegende Arbeit wertet das Projekt aus.

Die Basis der vorliegenden Arbeit bilden die Ergebnisse teilnehmender Beobachtung. Der Autor geht mit den Beobachtungen, seinen Erinnerungen, Aufzeichnungen, seinen Gefühlen und Erlebnissen sehr sorgfältig und durchaus selbstkritisch um. Ergänzt werden diese Ergebnisse durch umfangreiches Material, das aus Leitfaden-Interviews mit 7 Projektteilnehmer/innen gewonnen worden ist. Da diese Interviews nicht das Zentrum der Arbeit darstellen, sondern lediglich ergänzend zur teilnehmenden Beobachtung herangezogen worden sind, wurden sie nicht auf die übliche Weise ausgearbeitet und methodologisch reflektiert.

Neben der anschaulichen und systematischen Projektbeschreibung entfaltet der Autor in den Kapiteln 6 bis 8 ein ganzes Bündel psychologischer und soziologischer Theorie, um letztendlich eine Antwort auf die Frage, welchen sozialen Effekt das Projekt gehabt hat, zu finden und zu formulieren. Im Zentrum dieser Erörterung steht die latente „Devianz“ der Jugendlichen dieses Stadtteils, seiner psychischen und sozialen Ursachen. Schritt für Schritt werden verschiedene Theorien dargestellt, auf die Situation im Stadtteil übertragen, auf den konkrete Musikunterricht angewandt und letztendlich auch miteinander in Beziehung gesetzt. Ein geschicktes Schaubild auf Seite 71 kann als Substrat der Theoriearbeit gelesen werden.

Zum Abschluss der Arbeit wird erörtert, worin die Spezifika des Musikunterricht, d.h. des musikalischen Ansatzes des Projektes, liegen. Da selbstredend die meisten Effekte eines solchen „sozialen Projektes“ nicht musikspezifisch sind und – wie erörtert – beispielsweise auch von Sport geleistet werden könnten, ist es wichtig, dass der Autor sich abschließend diesem Problem explizit stellt. Die Punkte, die dabei genannt werde, sind sehr überzeugend und beweisen, dass Musik auf eine ganz eigentümliche Art eine „Weltsprache“ ist: die deutschen Projektteilnehmer/innen konnten die Jugendlichen aus Ecuador durchaus mit Elementen ihrer eigenen Musik – Santana, Nirvana u.a. – „abholen“, mussten sich nicht im dort verbreiteten „Reggaeton“ oder „Salsa“ oder gar in ecuadorianischer Folklore üben, ja sie hatten sogar bei einem Jugendlichen mit Johann Sebastian Bach Erfolg.

Kontakt: Alex:Wichern@web.de

Siehe auch "Musiker ohne Grenzen" (www.musikerohnegrenzen.de)