Blatt 2

Was ist jüdische Musik?

Einteilung nach Rubin/Ottens 2001:

1. Religiöse Musik

1.1. Musik der Synagoge

1.2. Religiöse Volkslieder (Nigun: Chassidismus, Pismonim: syrische Juden)

1.3. Neo-orthodoxe Musik („Sing Out")

2. Säkularmusik

2.1. Klezmermusik

2.2. (Jiddische) Volkslieder

2.3. Musik des Jiddischen Theaters

2.4. Ghetto- und Widerstandslieder

2.5. (Frühe) Zionistische Lieder

2.6. Aktuelle israelische Popmusik

Hintergrund der ethnischen Pluralität „Jüdischer Musik" (in der folgenden Tabelle fehlen die Pfeile,die auf Blatt 2 zu sehen sind!)

zu Blatt 2

Tempelzerstörung (70 n.Chr.)

 

„Westliche Diaspora"

 

 

„Östliche Diaspora"

Ostjuden

(ab 12.-14. Jhd.)

 

in Mitteleuropa verbliebene Juden

jemenitische Juden

orientalische Juden

sephardische Juden

ca. 1900

andere Länder

 

ca. 1900 USA

Jewish Music

bis 1945

Widerstand

Deutschland

„Emanzipation"

Israel

(1948)

 
   

nach 1945

Politfolklore

 

Konzertmusik

Synagogal-Kunstmusik

Kunstmusik

Folklore

Popmusik

 

Feidman

(Argentinien/

Israel 1970)

 

 

Revival 1975

Klezmer

„New Jewish Identity"

Tradition in

DDR und BRD

Klezmer-Revival

Ende 1980er

siehe Kasten!

Sephardisches Revival

parallel zum Klezmer-Revival

Im Schema fehlt ein Pfeil von "Ostjuden nach Israel": neben den Holocaustüberlebenden wanderten nach 1989 nochmals 900 000 "Ostjuden" (1/6 der Bevökerung) aus der ehem. Sowjetunion ein. - "Israelische Volkslieder" sind teils alte zionistische Fahrtenlieder (z.B. Nationalhymne "Hatikwah"), teils in den 50er Jahren neu komponierte Lieder. Die sonstige Folklore Israels ist "arabisch" durchdrungen. In der Popmusik ist die jemenitische Minderheit tonangebend: die "Israelische Musik des Mittelmeeres". Ein weiterer Popstil, die "Musiqah Mizrahit" (Östliche Musik) ist griechisch-türkisch-arabisch. - "Jiddisch" ist wie auch Klezmermusik eine in Israel nicht sonderlich geachtete Kultur. Das internationale Revival hat zu einer Neubewertung geführt. Bereits in den 70ern erlebte das chassidische Lied ein Revival. Zulauf hat auch der aus USA importierte "neo-orthodoxe" Schlager (Shlomo Carlebach). - Der israelische "Nationaltanz" Hora kommt aus Rumänien und steht der Klezmertradition nahe (vgl. "Hava Nagila").

 

Musikbeispiele:

"Urlicht" von Uri Cain/Mahler (Ausschnitt)

"Kol Nidre" von Max Bruch und gesungen von Oberkantor Karl Neumann

Hatikwah als zionistisches Lied (Leo Stein, 1934) und als israelische Nationalhymne

"Ya ba ye" von Ofra Haza

 

TEXTE

Zum religiösen Kontext

Abraham Zwi Idelsohn (1882-1938) bezeichnete Max Bruchs „Kol Nidre" op. 47 für Cello und Orchesterr als „klassisches Beispiel für den Gebrauch jüdischer Motive ohne das Resultat einer jüdischen Komposition". Er vermisste die Herausarbeitung des musikalischen Umfeldes als Ursprung der Melodie und die „religiösen Emotionen, deren Ausdruck sie ist: Ehrfurcht, Buße und Hoffnung". In der Bruch’schen Bearbeitung habe das jüdische Motiv völlig seinen Charakter verloren, es zeige germanisch-europäischen Geist und Stil, sei also kein jüdisches „Kol Nidre". (Nach Rubin/Ottens 2001.)

Richard Wagner (1850): Dem jüdischen Tonsetzer bietet sich als einziger musikalischer Ausdruck seines Volkes die musikalische Feier seines Jehovadienstes dar: die Synagoge ist der einzige Quell, aus welchem der Jude ihm verständliche volkstümliche Motive für seine Kunst schöpfen kann... Jene Melismen und Rhythmen des Synagogengesanges nehmen seine musikalische Phanatsie ganz in der Weise ein, wie das unwillkürliche Innehaben der Weisen und Rhythmen unseres Volksliedes und Volkstanzes die eigentliche gestaltende Kraft der Schöpfer unserer Kunstgesangs- und Instrumentalmusik ausmachte. Würde der Jude bei seinem Hinhorchen auf unser naives wie bewußt gestaltendes musikalisches Kunstwesen das Herz und den Lebensnerven desselben zu ergründen sich bemühen, so müßte er innewerden, dass seiner musikalischen Natur hier in Wahrheit nicht das mindeste ähnelt.

Arnold Schönberg (1933): Wie schon erwähnt, brachte das jüdische Volk zehnmal soviel bedeutende Männer hervor wie andere Nationen. Diese Tatsache ist so erstaunlich, dass sie nur als eine biologische bezeichnet werden kann. In Vorausahnung des kommenden Überlebenskampfes kratzte das Judentum das gesamte Genie seiner Rasse zusammen und brachte in 50 Jahren eine solche Zahl bemerkenswerter Männer hervor wie andere Völker nicht in einem Vielfachen der Zeit. Aber diese bedeutenden jüdischen Männer waren völlig eingetaucht in die Gefühlswelt und das Gedankengut anderer Nationen, und daher wurden sie taub gegen die Not ihres eigenen, des jüdischen Volkes.

Rubin/Ottens (2001): Wie kann man Repertoire und stilistische Elemente, die über Jahrhunderte sich entwickelten und bestimmten Codes zugeordnet werden, einem nichtjüdischen, nichtreligiösen Publikum oder Musikern vermitteln, die weder ein musikalisches System noch eigene kulturelle Refernzpunkte darin zu erkennen vermögen? Es ist eine geschichtliche Tatsache, dass die religiös-traditionellen Strukturen des Judentums den Fortbestand und die organische Entwicklung auch seiner musikalischen Struktur garantieren.

Zu Gustav Mahler („konvertierter Jude")

Max Brod hört 1917 in Prag chassidische Gesänge. Er schreibt: „Plötzlich riss es mich zusammen, es war mir, als hätte ich den Schlüssel zu etwas scheinbar fern Liegenden, ebenso tief Jüdischen gefunden, zu der Kunst Gustav Mahlers. Und zwar zu einer ganz ausgeprägten Eigentümlichkeit dieser Kunst, zu Gustav Mahlers merkwürdig oft verwendeten Marschrhythmen. Seit ich chassidische Volkslieder gehört habe, glaube ich, dass Mahler ganz einfach aus demselben unbewußten Urgrund seiner jüdischen Seele so und nicht anders musizieren mußte, aus dem die schönsten chassidischen Lieder, die er nicht gekannt hat, entsprossen sind."

Hans Joachim Moser (1924): Ich sehe heute in Mahler nicht mehr als die rührend tragische Erscheinung Eines, der mit alttestamentarischer Propheteninbrunst aus dem Fluchdasein des östlichen Ahasver hinwegstrebte zum Anschluß an Katholizismus und Deutschtum; der mit krampfigen Verrenkungen Riesenentwürfe türmte, dessen verehrungswürdigem Kampf viel Herrliches im Einzelnen gelang, der aber trotzdem blieb, wozu er geboren war: künstelnde Deutschtümelei... Endlose „Nomadenmärsche", so der Zionist Max Brod im „Anbruch" 1920, mit dem ewigen Schnörkel und von unangenehm zudringlicher Gesanglichkeit enthüllen gequältes Unvermögen.

Lexikalische Definitionen:

Idelssohn (1929): „Jewish Music is the song of Judaism through the lips of the Jew".

Sachs (1957): „Jewish music is that music which is made by Jews, for Jews, as Jews."

Braun (1986): Jüdische Musik ist „jüdisch bedingtes Verhalten, also eine Musik, die formale, stilistische oder semantische Zeichen jüdischen Verhaltens und jüdischer Kultur miteinander in Verbindung setzt". [Alle drei zitiert im „neuen MGG".]

Rubin/Ottens (2001): „Für die Erforschung der Klezmermusik in Deutschland ist es demnach von Bedeutung, ob jemand Jude ist oder ein Nichtjude, weil sich aus der unterschiedlichen Herkunft, Sozialisation und Weltanschauung Verhaltensweisen ableiten lassen, die Rezeptions- und damit dann auch Produktionsweisen dieser Musik beeinflussen."

Aussagen aktueller Musiker zu „Klezmermusik":

Typ1: die Rekonstruktion des historischen Bedeutungskerns

Walter Salmen (1991 zur Ethymologie): „kle" = alttestametalisch-hebräisch „Musikinstrument", „kle semer" = in der rabbinischen Literatur „Instrument zur Gesangsbegleitung". Tschechisches Rotwelsch: Klezmor, jüdische Gaunersprache: Klesmer; im christlichen Sprachraum: Klesmerten. „Lezzonim", „lezzanim" etc. Bezeichnung für jüdische Spielleute in Deutschland.
Michael Alpert (CD "Itzhak Perlman, Klezmer In the fiddler’s house", 1996): Strictly defined, klezmer music is the folk music of East European Jews, performed at weddings and other family or community celebrations. Comprising dance tunes as well as music for listening at wedding ceremonies and banquet, it is one part of a rich totality of East European Jewish music that includes liturgical and Hasidic music, folksong traditions,Yiddish theater music, art music, and popular song.
Andy Statman (CD "Klezmer Music, 1996): It’s the traditional instrumental music of Jews of Eastern Europe. It’s not vocal music, so Yiddish folk song and Yiddish theatre music, while related idioms, are not klezmer. In America, everything has been hodge-podged together; but they are seperate genres.

Typ 2: Enthistorisierung und Verallgemeinerung des „Wesens" (Weltmusiker, Musikreligionsstifter)

Helmut Eisel (CD „Passions For Klezmer", 1998): Die jüdische Mystik, die Kabbala, sagt: Ein Klezmer macht keine Musik, sondern er gibt Musik weiter. Er ist ein Gefäß (= Kli) des Liedes (= Zemer), ein Kanal zur Musik. Es ist seine Aufgabe, den Zuhörenden die Schönheit der Musik zu erschließen.
Giora Feidman (CD From the repertoire 1997): Klezmer is not a particular kind of music; rather it is a way of interpreting music; a way influenced by the sounds of Jewish prayer and by the sound of Shofar, the ram’s horn.
Niki Graca (CD „Yiddish Soul Klezmer", 1993): Der Klezmer ist also das Instrument zum Hervorbringen eines Liedes. Wichtig ist dabei nicht, welches Lied ausgedrückt wird, das Hauptaugenmerk liegt auf dem Wie. Es geht darum, dass der Musiker und Instrument eins sind, das Instrument ist die Stimme, die Gedanken, Empfindungen, Bilder zum Klingen bringt.

Typ 3: Aktive Weiterentwicklung der historischen Grundkonzeption für eine Zeit, in der die historischen Bedingungen nicht mehr gegeben sind („Unorthodoxen", „Fusionisten")

Frank London (CD "Klezmer Music", 1996): [College-age people who are as familiar with Yiddish music and culture as I am with rock and roll and hippiedom of my youth...] They feel comfortable reinterpreting their identity: writers create Jewish ‘zines and trash bands deconstruct holiday songs. I worked with a writer whose poetry used the word „klezmer" as a metaphor, a symbol as rich and intoxicating as „jazz" was for the Beats. Yiddish culture has become a very strong, visible component of our postfeminist, postmodern artistic/musical/cultural/political environment.
Henry Sapoznik (Buch „Klezmer!" 1999): Yiddish culture and music today can be an overt political act, a show of resistance to Jewish homogeneousness, and the artificial monolith of Israeli=Jerwish. It is a partisan hymn with a bulgar beat. The drive tio renew Klezmer is clearly, meanwhile, at odds with mainstream Jewish society...