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„Weltsprache Musik“
   

Der Topos, daß Musik eine "Weltsprache" sei, die jedermann und jede Frau "versteht", wird gerade im Zusammenhang mit "Weltmusik" und Klezmer-Konzepten, die sich weltmusikalisch geben, gerne zitiert. Dieser Topos ist aus mehreren Gründen problematisch: 
  • er setzt voraus, daß Musik eine Sprache sei ("Sprache des Herzens"...?), geht also vom Kommunikationsmodell der Musik aus, wozu unter "Bedeutungswandel" einiges gesagt wurde;
  • er nivelliert die kulturell recht unterschiedlichen Funktionen von Musik und betrachtet Musik so, wie wir Mitteleuropäer es gewohnt sind;
  • er verleitet uns also, unseren Musikbegriff weltweit zu verallgemeinern.
Die folgenden Textstellen sollen die Problematik des Topos andeuten! Dabei geht es oift um sog. "Universalien" der Musik, d.h. Phänomene, die trans-kulturell sind (wobei beispielsweise an Archetypen wie Klangoder Rhythmus gedacht wird). 

Die "weltmusikalische" Herangehensweise ist nicht notwendig an den Topos von der Weltsprache Musik gebunden. Ebensowenig wie die folkloristische Herangehensweise diesen Topos automatisch in Frage stellt. (Viele "Authentiker/Folkloristen" benutzen den Topos sehr gerne.)

 


 
 

Bruno Nettl et al.: Excursions in World Music (New Jerrsey 1992), S. 6-7:

But are there not some things about music that all, or virtually all, societies share? Such phenomeno-na are called „universals“.
Gib es überall auf der Welt „Musik“?
The most obvious one is music itself. It is a cultural universal in the sense that all societies, to our knowledge, have something that sounds to us like music. But the matter is more complicated. First, just because it sounds like music to us does not mean that it is music. Moreover, many societies do not have a concept of music as it has developed in Western culture...
So, if we are to defend the proposition that music is a cultural universal, we can perhaps do it by suggesting that all cultures have some kind of vocal production that they distinguish from ordinary speech. Much of this is clearly singing, but various kinds of ceremonial speech are included. It follows from this that singing is a cultural universal: All peoples sing.  ... Nowhere do people „just“ sing; they always sing something, and in this respect music contrasts with some other art from such as dance.
It seems that, in all cultures, music is used in some sense for transforming ordinary experience - pro-ducing anything from trance in a ritual to edification in a concert.
 

Reinhard C. Böhle „Interkulturell orientierte Musikdidaktik“ (Ffm. 1995), S. 58-61:

In Festtagsreden, Politikerreden, Broschüren und Dokumentationen anläßlich musikalischer Begegnungen von verschiedenen Kulturen, sei es bei internationalen Workshops oder folkloristischen Begegnungs- oder Austauschprogrammen, lassen sich mitunter Statements ausmachen, die die Musik als allen verständliche Weltsprache charakterisieren, z.B.: Musik ist eine Sprache, die alle verstehen und daher verbindet. So sagt das Council if Europe: „Music is a universal langugage. It builds bridges between individuals and nations where language barriers hamper communication“ (1989, S. 5).
„Musik ist eine Weltsprache!“ ist eine - eurozentristische - Wunschvorstellung!
In Analogie zu den Sprachen der Welt, mit denen eine Verständigung innerhalb einer Sprachgemein-schaft, also zwischen Menschen, die eine gemeinsame Sprache sprechen, möglich  ist, soll die Musik danach als eigenständige Sprache allen Menschen verständlich sein und Gefühle, Inhalte und Gedanken vermitteln. Werden dabei die geschätzten 15 000 (Musik-)Kulturen berücksichtigt, wird die Problematikm deutlich.
... unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation mit, über oder durch Musik betrachtet, ist die Musik damit eine Sprache, die keinesfalls weltweit eine Einheitssprache darstellt und immer spontan von allen verstanden wird. Die Musik anderer Kulturen und Teilkulturen ergibt durch den für uns unge-wohnten Klang sogar einen anderen Sinn. Sogar im europäischen Kulturraum oder gar auf Deutsch-land bezogen gibt es selbst aus Sicht eines Einheimischen oftmals Verständigungsschwierigkeiten, die sich auf verschiedenenen Ebenen ergeben und von leichten Unsicherheiten bis zur totalen Hilflo-sigkeit reichen.

Rudolf M. Brandl und Helmut Rösing: Musikkulturen im Vergleich. In: Musikpsychologie Ein Handbuch (Reinbek 1993), S. 71-72:

Jede Kultur definiert ihren Musik-Begriff!
Natürlich baut Musik auf biologisch-physiologischen Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung auf. Aber entscheidend sind letztlich jene gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse, die zu ver-schiedenenen Weltbildern, Wertesystemen und Lebensformen führen. Sie bestimmen nicht nur musi-kalisches Handeln, sie entscheiden auch darüber, welche musikbezogenen Konzepte innerhalb einer Kultur im Verlauf der Geschichte entstehen und fortgeführt werden. Die jeweiligen kulturgeprägten musikalischen Konstruktionsprinzipien sind ein nicht austauschbarer, klingender Ausdruck dieser Konzepte. Deshalb muß der Begriff Musik für jede Kultur eigens definiert werden. Ein Analogieschluß selbst von experimentell nachgewiesenen europäischen Musikvorstellungen, Hörweisen und Regelsystemen auf andere Musikkulturen ist ebensowenig möglich wie naiv-emphatisches Verstehen.

Wolfgang Martin Stroh: Zur psychoanalytischen Theorie der Weltmusik. In: Beiträge zur Popu-larmusikforschung 19/20 (Karben 1997), S. 130 und147

Musik-Universalien gibt es auf einer „tieferen“ Ebene als dem der Sprache.
Weltmusik als interkulturelle Kommunikation steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, ob es einen interkulturellen Code (= Universalien interkultureller Kommunikation) gibt. Das heißt, ob alle kultur-spezifischen musikalischen Tätigkeiten der Menschen Ausformungen kulturunspezifischer Eigen-schaften von Musik sind.
... Eine weiterentwickelte Psychoanalyse bietet nicht nur eine tragfähige Theorie für interkulturelle Kommunikation, sie hat auch praktische Konsequenzen. So kann interkulturelle Kommunikation, so kann Weltmusik oder interkulturelle Musikerziehung demzufolge dann gelingen, wenn sie arche-typische Dimensionen enthält: zum Beispiel Grenzerfahrung und Transition, Regression, Schwerelosigkeit und Transzendenz, Erdung und Verwurzelung, das Fallenlassen ins Chaos und die Neuorganisation des Bewußtseins usw.
Die musikalische Universalismus-Debatte ist bislang möglicherweise auf einer falschen Ebene geführt worden, nämlich der des musikalischen Materials bzw. der der Instrumente oder Stile. Die vorliegen-den Theorien [Wolfgang Strobels und Reinhard Flatischlers] verweisen auf universalistische Phäno-mene hinter diesen Ebenen. Sie verweisen auf tiefere psychische Schichten. Die Erscheinungen auf der Materialebene sind bereits kulturelle Ausformungen der Prozesse auf jenen Tiefenschichten menschlichen Bewußtseins.
 

Wolfgang Martin Stroh: Wiederbelebung der Auditiven Wahrnehmungserziehung durch die akustikökologische Soundscape-Bewegung. Vortrag Oldenburg 1998.

...das Paradigma der musikalischen Kommunikation. Hiernach hat Musik letztendlich eine „Bedeutung“, die Menschen mehr oder weniger gut „verstehen“ können. Die Bedeutung jedoch liegt „in“ der Musik und ist vom Komponisten, Musiker oder „Sender“ dorthinein verlagert worden. Bezüg-lich solcherart Bedeutung gibt es ein „richtiges“ und „falsches“, ein „adäquates“ oder „inadäquates“ Verstehen von bzw. Umgehen mit Musik. - Selbst die modern anmutenden Aspekte, die Wilfried Gruhn in die Musikhören-Verstehens-Diskussion mittels Gehirnforschung hineingetragen hat, ändern nichts an diesem alten Paradigma.

Das Paradigma der Musik als „Kommunikation“ ist aufgehoben zugunsten des Paradigmas von Musik als „Konstruktion“.
Die Praxis des Musikunterrichts, wie wir sie aufgrund der Nachfrage an Lehrerfortbildung und natürlich auch beobachtend in der Schule verfolgen können, hat inzwischen aber einen postmodernen Paradigmenwechsel vollzogen. Danach wird das traditionelle Kommunikationsmodell der Musik ad acta gelegt. Es gibt nicht mehr „die“ Bedeutung von Musik, nicht mehr „das“ Verstehen von Musik. Es wird sinnlos von Sender, Empfänger und Botschaft zu reden - und pädagogisch danach zu handeln.
Nach dem neuen, postmodern konstruktivistischen Paradigma entstehen „Bedeutungen“ allein durch den Umgang eines Menschen mit dem Gegenstand, beispielsweise Musik. Der Mensch (vulgo „HörerIn“) „konstruiert“ seine Bedeutung, versteht so, wie, und das, was er will.

Sie alle haben sicherlich mehr oder weniger wohlwollend diesen Paradigmenwechsel schon beobach-tet. Er ist keine Folge der Theorie oder wissenschaftlichen Pädagogik. Er ist einfach die bestehende, gängige Praxis. Ob die Schütz’sche Afrodidaktik, die Lugert’sche Poppragmatik oder mein szenisches Spiel  - immer wieder erscheint die MusiklehrerIn nur noch als RessigeurIn von Inszenierungen, in-nerhalb derer die SchülerInnen sich ihre höchst persönlichen Bedeutungen von Musik erarbeiten.