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Vladimir Ivanoff zu "alla turca":

Kaum geklärt ist bis heute die Frage, wie und auf welchen Wegen die Aneignung "türkischer" Idiome vollzogen wurde, da grundsätzlich zwei Rezeptionsmöglichkeiten zur Verfügung standen:

- Die konkrete Rezeption von Musik, entweder auf Reisen im Osmanischen Reich oder anläßlich der zahlreichen Gelegenheiten, osmanische Musik (vor allem die mehterhâne) in Mitteleuropa zu erleben.

- Die schriftliche Rezeption über Reiseberichte und Turcica.

Beide Wege der Rezeption lassen sich für den Bereich der Musik im Osmanischen Reich bisher nur äußerst lückenhaft dokumentieren:

- Es sind keine aussagekräftigen Dokumente aus dem 16. bis 18. Jahrhundert bekannt, die eine direkte Rezeption osmanischer Musik durch europäische Komponisten von Alla-Turca-Musiken belegen.

- Begegnungen und Austausch zwischen "orientalischen" und europäischen Musikern sind selten und nur in ankdotischer Form belegt.

- Auch der Einfluß von Reiseberichten und Turcica auf europäische Komponisten konnte bisher nicht belegt werden.

- Genauso wenig sind Informationen bekannt geworden, die konkrete Aufführungen der zahlreichen, in Reiseberichten und Turcica publizierten Transkriptionsversuche osmanischer Werke belegen.

Die eigentliche Epidemie der "Türkenmode" wurde jedoch erst durch die beiden osmanischen Gesandtschaften nach Frankreich, in den Jahren 1721 und 1742, ausgelöst.

In Rom wurde 1748 wahrend des Karnevals von der Französischen Akademie eine große Maskerade inszeniert, in der eine spezifische muslimische Zeremonie, die Karavane des Sultans nach Mekka / La caravane du Sultan à la Mecque, zur Schaustellung authentischer türkischer Kostüme diente. Die in Rom außerordentlich erfolgreiche Parade diente einer Maskerade gleicher Thematik in Neapel (1778) als Vorbild.

Die Charakteristiken der mehterhâne -Musik, die von europäischen Hörern hauptsächlich identifiziert und imitiert wurden waren nach Eric Rice auch diejenigen, die im Mehter-Repertoire vom 14. bis zum 19. Jahrhundert konstant blieben:

1. Ein im Verhältnis zu den entsprechenden europäischen Instrumenten schärferer Klang der Melodienstrumente.

2. Einstimmiger Melodievortrag.

3. Fast durchgängiger Einsatz von Perkussion und vor allem Becken.

4.Verschiedene Trommeltypen führen Unterteilungen des Grundpulses auf unterschiedlichen metrischen Ebenen aus.

5. Die Metren sind duplex oder asymmetrisch.

6. Die einzelnen Abschnitte der Stücke stehen oft in unterschiedlichen makamlar, die ohne modulierende Übergänge aufeinander folgen: für westliche Ohren scheinen die Melodien plötzlich und unvorbereitet von Dur nach Moll zu schwenken.

7. Sequenzierende Melodieformeln.

8. Viele Melodien beginnen mit drei Tönen im Grundpuls, entweder auf gleicher Tonhöhe oder in größeren Intervallen (Quarte, Quinte).

9. Schnelle ornamentale Figuren in kleinen Intervallen, die einen Zentralton umspielen (oft in punktierten Rhythmen) sind für die Melodien typisch.

10. Die Stücke haben eine dem Rondeau ähnelnde Form mit zahlreichen wiederholten Abschnitten. Stücke mit drei oder vier Abschnitten sind verbreiteter als solche mit zwei oder fünf Abschnitten. Nach jedem Abschnitt folgt ein Ritornell (mülâzime).

Für den Alla Turca-Effekt in der europäischen Kunstmusik sind, neben den Instrumenten der "Türkischen Musik" (z. B. Piccoloflöte, Triangel, Becken, große Trommel), der häufige Wechsel zwischen Dur und Moll, starke dynamische Kontrastwirkungen, Unisono-Passagen und häufige Motivwiederholungen von besonderer Bedeutung.

Treffen die hier geschilderten Topoi mit den Perkussionsinstrumenten der "Türkischen Musik" zusammen, so begegnet man der voll ausgebildeten, zuvor beschriebenen türkischen Manier des 18. Jahrhunderts, auf deren Elemente zuerst K. Reinhard in Mozarts alla-turca-Satz der A-Dur-Klaviersonate KV 331 hinwies. Diese musikalischen Topoi waren bis weit in das 19. Jahrhundert verbreitet. Die gerade im 19. und frühen 20. verbreitete lydische Quarte und die übermäßigen Sekunden in der Melodieführung wurden schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt.

S. Brossards um 1700 überlieferte Marche des Janissaires diente bis zur Einführung der türkischen Musik durch Gluck um 1770 als ein eigenständiger Topos für die französische Instrumentalmusik, der seine volle Ausprägung um die Jahrhundertmitte in der Contredanse turque erfuhr. Das betreffende Melodiefragment erscheint auch in den musiktheoretischen Schriften von Fonton / Blainville.

Die bekanntesten Beispiele europäischer Nachformungen türkischer Militärmusik sind wohl in Mozarts Rondo alla turca und der Entführung aus dem Serail (K. 384) /, J. Haydn: Symphonie Nr. 100 in G-Dur ("Militärsinfonie") und L. van Beethoven: Sinfonie Nr. 9 in d-moll, op. 125, zu finden. Diese Werke setzen auch den Rahmen für den Zeitraum in dem die "Türkische Musik" in der europäischen Kunstmusik besonders geschätzt wurde, nämlich das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert.

Im späten 17. Jahrhundert wurde jedoch eine Szene aus Jean-Baptiste Lullys Le Bourgeois Gentilhomme zum Modell für zahlreiche weitere turqueries. Das Werk wurde auf Wunsch Ludwig XIV. für den französischen Hof gechrieben. Ludwig verlangte nach einer Parodie der Türken, nachdem eine diplomatische Mission, in der er sich lächerlich gemacht hatte, gescheitert war. Nach Françoise Karro handelt es sich um eine französische Adaption der mittelalterlichen Traditionen von Gleichgewicht und Einheit des christlichen Europas. Das Osmanische Reich konnte so nach den Erschütterungen der Renaissance und Reformation zum gemeinsamen Feind Europas werden und so seine internen Streitigkeiten lösen.

Lullys und Molières Bourgeois Gentilhomme, am 14. Oktober 1670 uraufgeführt, erörtert, ob Adel verdienstvoll ist. Die "Türkische Zeremonie" ist ein Streich, den Clonté, der Geliebte seiner Tochter, dem Protagonisten Jourdain (von Lully verkörpert) spielt. Cleonté, für Jourdain von zu niedrigem sozialen Rang, verkleidet sich als Sohn des türkischen Sultan's und hält um die Hand von Jourdains Tochter an. Jourdains Eitelkeit ansprechend verspricht Cleonté diesem, ihm in der Zeremonie den Rang eines "Mamamouchi" zu verleihen, um ihn als Schwiegervater würdig zu machen. Ludwig XIV. war mit der "Türkischen Zeremonie" unzufrieden, da dort nicht die Türken, sondern der Franzose Jourdain lächerlich gemacht wird.

Die "Authentizität" der "Türkischen Zeremonie" wurde dem Chevalier Laurent d'Arvieux [1653-: 1735] anvertraut, der das Osmanische Reich bereist hatte. Vermutlich gab d'Arvieux den Autoren Molière und Lully Informationen und Textzitate zum Initiationsritual der Mevlevi, auf welchem die betreffende Szene basiert. Es ist nicht klar, ob dazu auch Informationen über die Musik zählten. In seinen Mémoires merkt d'Arvieux an, daß sich seine Zuständigkeit auf die Kostüme und Bräuche beschränkt habe.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde eine eine wahre Flut von "Türkenopern" komponiert; so z. B. mehr als 25 Werke über Sultan Süleym®n. Die erfolgreichste dieser Vertonungen war wahrscheinlich der 1753 in Dresden uraufgeführte Solimano von Johann Adolf Hasse, mit einem eigenen "Janitscharen-Orchester" auf der Bühne (Hörner, Oboen, Fagott, "timpano turchesti"). Erst die instrumentalen Auftrittsmusiken ermöglichten in der italienischen Oper der metastasianischen Epoche die musikalische Repräsentation des Exotischen. AuchD. Perez fordert im Solimano (1757? 1768) explizit "barbari stromenti". Stilistisch haben beide Solimani kaum Charakteristiken der sonst üblichen Alla-Turca-Idiomatik.

Deutlich wird ein "Türkischer" Einfluß wohl zuerst am Einsatz der entsprechenden Rhythmusinstrumente. Unabhängig davon, ob sie fremdländische Importe, wie die in Frankreich seit dem 16. Jahrhundert üblichen nacaires, waren, oder Nachschöpfungen: Sie ließen sich ohne Probleme in den musikalischen Satz integrieren. Nicolaus Adam Strungk verwendete in seiner 1680 in Hamburg uraufgeführten Oper Esther zum ersten Mal türkische Becken. Giovanni Domenico Freschi verwendete ebenfalls 1680 in seiner venezianischen Oper Berenice vendicata neben den Becken auch andere "türkische" Instrumente. An der Hamburger Oper ist 1710 eine Triangel dokumentiert; 1717 setzt die Dresdener Oper zwei Triangeln ein. Chr. W. Gluck orchestriert 1761 in Le Cadi dupé und 1764 in La rencontre imprévu Becken und Große Trommel.

Notenbeispiel Nr. : Christoph Willibald Gluck, Ouverture, T. 1-25, La Rencontre imprévue (1764)

Obwohl Christoph Willibald Glucks La Rencontre imprévu (UA 1764 Wien) keinerlei Militärszenen oder Bezüge zu den Janitscharen enthält, enthält die Ouverture deutlich einige Charakteristiken der Mehter-Musik: Fanfarenartige Eröffnung, ornamentale Melodieformeln, die auch sequenziert werden, häufige Unisono-Passagen, die vorwärtstreibenden Beckenschläge und die fortwährenden Wiederholungen der Motive. Besonders auffällig sind die durch entsprechende Beckenschläge gestützten, durch Pausen voneinander abgesetzten und dornamentierten Tonrepetitionen auf d''' in der 1. Violine und der Piccolo-Flöte (zuerst in T. 18-19). Sie wirken überzogen, werden bei jeder Wiederholung vorhersagbarer und erzeugen damit einen zunehmend erheiternden Effekt. Als Persiflage wirkt auch bereits der Fall des dritten Fanfarentons um eine kleine Septime (T. 2-3). Auch das schnelle Allegro-Tempo transferiert die "türkischen" Marschelemente in die Sphäre der Persiflage.

Auch hier erscheint der "noble Türke": Prinz Ali entdeckt, daß seine Verlobte Prinzessin Rézia im Harem des Sultans von Ägypten gefangen ist (Ägypten als Teil des Osmanischen Reichs konnte für Europa als türkisch gelten). Als diese erfährt, daß Ali sich in Kairo aufhält, sendet sie ihm mehrere Haremsmädchen, um seine Treue zu prüfen.

Joseph Haydns L'incontro improvviso ist eine Übersetzung des Librettos von Glucks Rencontre. Unter Umständen ließ sich Haydn bei einem Besuch in Wien, während Glucks Oper aufgeführt wurde, von dessen Werk zu seiner Wahl anregen. Haydn verwendet für die "Türkische Musik" innerhalb der Ouverture und einige spätere Passagen von L'incontro improvviso Trompeten, Pauken und zusätzliche Perkussion. Die Ouverture beginnt mit einer langsamen Einleitung, die einen starken Kontrast zu dem folgenden "türkischen" Abschnitt bildet. Haydn nutzt einige der Mehter-Elemente, denen wir bereits in Glucks Ouverture begegnet sind.

Der Grad der "Genauigkeit" in der "Übersetzung" von mehterhâne-Musik in einen der alla turca-Stile hat eine große Tragweite für dessen Stilprinzipien:

Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert dienten vor allem die "Türkischen Instrumente" (wie Triangel, Becken und Große Trommel), doch nur wenige stilistische Elemente der mehterh®ne dieser Übersetzung.

Inder zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheinen vermehrt melodische und rhythmische Elemente der mehterhâne in ihren europäischen Repräsentationen. Bereits gegen Ende der Wiener Klassik hatten sich diese Elemente auf die Perkussionsinstrumente der "Türkischen Musik", vor allem die Triangel, reduziert. Die Besprechung von Beethovens 9. Symphonie durch A. Kanne in der Wiener Allgemeinen Musikalischen Zeitung zeigt durch die Verwendung des Begriffs "Messingorchester" für den betreffenden Abschnitt eine gewisse Ermüdung an der "Türkischen Musik".