Tiefenwirkung von Musik: Texte zur Theorie der Musikwirkung aus der praeverbalen Kommunikation

Blatt 11

Bernd Nitzschke: Von der Musikalität des Mutter-Kind-Dialoges (1984)

Die Sprache ist zunächst kein Mittel, den Affekt ursprünglich zum Ausdruck zu bringen... dennoch gibt es auch in der Sprache vielfache Anklänge, die einen ursprünglichen, nämlich musikalischen Ausgangspunkt der gesprochenen Sprache vermuten lassen. Vom Sprachrhythmus ist etwa die Rede, vom Wortklang, vom Tonfall des Wortes, von der Satzmelodie..

Das Leben selbst beginnt mit einem Schrei. Und wir wissen alle aus eigener Erfahrung, dass heftige Affekte natürlicherweise dazu drängen, lautlich offenbart zu werden. Je heftiger der Affekt, desto größer unser Bemühen (als Erwachsene), die zugehörige Lautoffenbarung zu unterdrücken oder sie doch wenigstens in eine gesellschaftlich akzeptierte Bahn zu lenken. Es scheint, als sei es eine der wichtigsten Leistungen der Kultur, den Affekt an seiner ursprünglichen Lautoffenbarung zu hindern, den primären Affektausdruck in einer "sublimierten" Gestalt zuzulassen. Das Gebot der Kultur berührt zutiefst die Archaik der Affekte. Die Musikalität des Kults ist eine erste Geste, Freude und Leid in gesellschaftlichen Ausdruck zu verwandeln, in sublimierter Form, durch ein Wiegenlied, durch ein Klagelied, darzubieten.

... Es ist nun weiter anzunehmen, dass sich die ursprüngliche emotionale Dialektik im Dialog zwischen Mutter und Kind konstitutiert. Hier wird erstmals erworben, ausgetsaltet oder missgestaltet... Ein Indiz für den emotionalen Kommunikationsvorgang zwischen dem Kind und der Mutter sind die lautlichen Äußerungen, die beide austauschen. Es handelt sich dabei zunächst um eine Art primitiver Sprechgesang, der allerdings weder zufällig noch ungeordnet ist. Wie experimentelle Studien gezeigt haben, ist der lautliche Dialog zwischen dem Kind und der Mutter klar strukturiert und regelhaft....

Die gesunde Mutter hört im Lallen ihres Säuglings "Musik". Sie "versteht" darin "Sinn", den sie aufgreift, beantwortet, in veränderter Gestalt zurückgibt, mit dem sie aber keineswegs "deutend" umgeht wie ein Psychoanalytiker mit dem verdeckten Sinn der Rede eines erwachsenen (hoch strukturierten) Neurotikers. Dabei reagiert eine solche Mutter äußerst feinsinnig und nuanciert auf die "musikalischen" Angebote ihres Kindes. Sie gestaltet den Dialog, ohne dies ausdrücklich zu bemerken, im Sinne einer Förderung der Entwicklung ihres Kindes. Dabei übersetzt sie - nach und nach - archaischen Sinn (ohne diesen zu widerlegen!) in "menschlich"-kulturellen Sinn. Immer aber gewährt sie dem Kind, seine archaischen Affekte zunächst einmal auszudrücken. Sodann bietet sie dem Kind die Möglichkeit, das Verhältnis von Nähe und Distanz zu bestimmen und zu regulieren, in erster Linie den Bedürfnissen des Kindes gemäß. Innerhalb eines solchen Dialogs kann das Kind sich schrittweise als ein selbständiges Individuum kennen lernen.

Soweit die Mutter Symbiose und Verschmelzung anbietet, ist dies kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung, der sichere Boden, von dem aus das Kind die Welt und seine eigenen Reaktionen erfahren kann.

Dabei spielt meiner Ansicht nach auch im Mutter-Kind-Dialog die Katharsis eine ausgezeichnete Rolle. Haltende, führende und das affektive Geschehen steuernde und regulierende Funktionen der Mutter könnten auch für den Musiktherapeuten zum Vorbild werden. Symbloseangebote sollten keine Verführungsangebote sein; Distanzstrategien sollten sich nicht in erster Linie auf die Angst des Therapeuten vor dem Affekt gründen. Die Autonomie des Patienten (wie sonst die Autonomie des Kindes) bleibt das den Dialog von Ferne strukturierende Prinzip aller therapeutischen Bemühungen. Damit wird aber auch die Trennung zu einem Thema des Dialogs: die immer währende Trennung innerhalb des emotionalen Wechselspiels zweier Menschen, schließlich die Trennung am Ende der Therapie, die einen geglückten Dialog zu einem tatsächlichen Loslösungsprozess werden lässt. Damit verbunden ist aber auch eine Trennung von archaischen Qualitäten des Gefühlsausdrucks, ein Überwechseln zu "reiferen", erwachsenen Formen des Dialogs. Dass allerdings bei keinem - auch nicht beim gesündesten - Menschen jemals ein vollständiges Ersetzen des Primärvorgangs durch den Sekundärvorgang zu erreichen ist, dass vielmehr die freiwillige und reversible Rückkehr zu archaischem Erleben gerade zu den vorzüglichen Kennzeichen eines gesunden Menschen gehört, wäre am Schluss noch zu betonen. Trennung von der Archaik auszuhalten und sie wahlweise rückgängig machen zu können, gerade zu diesem Zweck haben sich die Menschen zu allen Zeiten viel einfallen lassen: Ein Mittel hierzu ist die Fähigkeit, Musik zu genießen.

Dieter Tenbrink: Musik als Möglichkeit zum Ausdruck und zur Transformation präverbaler Erlebnismuster (2000).

Wenn wir davon ausgehen, dass die Symbolisierungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkindes erst im 2. Lebensjahr eine gewisse Effektivität erlangt und sich damit das Erleben grundlegend verändert (Stern 1986; Lichtenberg 1983), können wir ebenfalls davon ausgehen, dass in jedem Menschen - in der Zeit bis zu dieser Grenzlinie, die allerdings unscharf ist - ein schier

unermessliches Potential an Erleben auf der Grundlage präsymbolischer Modi der Erfahrungsbildung angesammelt und assimiliert wurde, das also keiner direkten oder unmittelbaren Symbolisierung unterworfen worden ist (Ogden 1989). Dieses präsymbolische oder umgedachte Wissen (Bollas 1987) bildet die unerschöpfliche dynamische Grundlage unseres Lebens und Erlebens bis zu unserem Tod. Gleichzeitig stellt sie eine lebenslange Anforderung an unsere sekundärprozesshafte Verarbeitung, die u. a. darin besteht, durch nachträgliche Symbolisierung Teile dieser präsymbolischen Erfahrungsbildung dem bewussten Erleben und Verhalten zugänglich zu machen (die Philosophin S. Langer vertritt in ihrer für diese Fragestellung höchst relevanten Arbeit von 1942 die Auffassung, dass die Symbolisierung eines der wesentlichen menschlichen Grundbedürfnisse darstellt). Anders ausgedrückt, die in der präverbalen/präsymbolischen Entwicklungsphase (Ebene der Grundstörung) gespeicherten Muster und Inhalte des Erlebens bilden - insbesondere, wenn sie außerhalb des phasengemäßen Omnipotenzerlebens i. S. Winnicotts (1971,1988) verblieben sind und deshalb auch nicht für die Bildung von Selbststruktur verwendet werden konnten - den Kern unseres Unbewussten. Sofern solche Erfahrungsmuster in gewissem Außmaß unter bestimmten Bedingungen nachträglich in mehr oder weniger angemessener Weise in symbolisierte Muster transformiert werden und auf diese Weise zur Bildung von Selbststrukturen beitragen, können wir davon sprechen, dass Unbewusstes bewusst gemacht worden ist. Es scheint jedoch, dass der weitaus größte Teil dieser präverbalen Erfahrungen - dies gilt insbesondere für jene Erfahrungen, die außerhalb des Omnipotenzerlebens verblieben sind - im Alltagsleben niemals in hinreichender Weise einen solchen nachträglichen Transformationsprozess erfährt und damit immerfort unser Erleben und Verhalten mitbestimmt, ohne dass wir eine Chance haben, uns dessen wirklich in seinem vollen Ausmaß innezuwerden (die nachträgliche Symbolisierung kann nie vollständig sein, da diese präsymbolischen Muster den Kern des Selbst ausmachen und ganz entscheidend an der gesamten weiteren Entwicklung des Selbst beteiligt sind; diese Erfahrungen sind einerseits wegen ihres präsymbolischen Charakters nicht direkt unseren sekundärprozesshaft organisierten Erkenntnisprozessen zugänglich, und, da sie das "Kernprogramm" des Selbst bilden, sind sie andererseits von diesem Selbst auch nicht hintergehbar). Aber wie bestimmt dieses unbewusste Erlebnisreservoir konkret unserer Erleben und Verhalten?

Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass präverbale Muster sich auf nonverbale Weise (z. B. in der Körperhaltung, in der Stimme, in der Gestik, in der Mimik, in Stimmungen, in der Art, wie wir auf höchst komplexe Art und Weise "instinktiv" auf andere Menschen reagieren - man möge sich nur vergegenwärtigen, welch vielschichtige unbewusste Austausch- und Abstimmungsprozesse bereits dann stattfinden, wenn sich ein unbekannter Mensch lediglich uns gegenüber auf den Sitz in einer Straßenbahn setzt - im Naturerleben, in Träumen und in Symptombildungen) manifestieren. Ein anderes großes Ausdrucksfeld für diese basalen präverbalen Muster ist die Kunst. Und damit sind wir u. a. auch schon fast bei der Musik angelangt.

In all den genannten Bereichen drückt sich u. a. das präverbale Erleben aus, und zwar sowohl jenes, das phasengemäß in das Omnipotenzerleben aufgenommen wurde, als auch solches, welches aufgrund seines traumatischen Potentials ausgeschlossen bleiben musste. Oder anders formuliert, es drängt danach, nachträglich eine symbolisierte Form zu erhalten. Das heißt

wir suchen unbewusst, durch unsere präverbalen Erlebnismuster gesteuert, ständig nach symbolischen Formen, um diesen Mustern und Erfahrungen nachträglich einen fassbaren Ausdruck zu verleihen oder ihnen eine symbolische Form zu geben. Dieser Prozess gestaltet sich verhältnismäßig einfach und unkompliziert, solange es sich um Muster handelt, die phasengemäß in das Omnipotenzerleben einbezogen werden konnten und infolgedessen am Aufbau von Selbststrukturen beteiligt sind, die in Übereinstimmung mit dem wahren Selbst (Winnicott 1960) stehen, aber sehr viel schwieriger, wenn es sich um traumatische Erfahrungen handelt, die immer außerhalb des Omnipotenzerlebens verbleiben mussten.

 

Beide Aufsätze sind abgedruckt in "Psychoanalyse und Musik. Eine Bestandsaufnahme",hg. von Bernd Oberhoff. IMAGO-Psychosozial-Verlag Gießen 2002.