Von der Akustikökologie zum Soundscape in Schule und Alltag

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„ting II" auf der Ostfriesischen Insel Spiekeroog - Musikalische LandArt von Willem Schulz

1. September 1995. Gegen 19 Uhr verlangsamt das F�hrschiff „Spiekeroog I" kurz vor der Insel seine Fahrt. Es weicht vom Kurs ab und dreht eine k�hne 240-Grad Runde im seichten Priel vor dem „alten Anlieger" von Spiekeroog. �ber Lautsprecher kl�rt der Kapit�n die Fahrg�ste auf, da� er in K�rze mit seiner Schiffssirene LandArt „ting II" zu er�ffnen habe - eine nicht einfache Aufgabe, da, wie sich Schlag 19.00 Uhr herausstellt, der vom Komponisten Willem Schulz tags zuvor angelernte Kapit�n M�he hat, den genauen Rhythmus des partiturgenau vorgeschriebenen Signals zu realisieren. Dennoch k�nnen die 500 Fahrg�ste den erfolgreichen Beginn eines musikalischen Wochenendes beobachten, das sie nunmehr bis Sonntag Abend bei ihren Rundg�ngen auf der „gr�nen Insel" verfolgen wird: Zirka 40 wei� gekleidete Menschen, geometrisch in der verrosteten Hafenlandschaft positioniert und ganz offensichtlich mit der Handhabung von Instrumenten besch�ftigt.

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Was zun�chst als postmodern touristischer Schachzug der Spiekerooger Kurverwaltung erschien, was mit Gru�worten des Kurdirektors �ber die Natur-Mensch-Beziehung auf diesem touristisch ertragreichen Fleckchen Sand-Erde mit 600 Einwohnern und 3000 G�sten begann, was das F�hrschiff mehr schlecht als recht er�ffnete, entpuppte sich bald nach Ankunft der G�ste als ein Wochenende der neuen musikalischen Erfahrungen:

Die Sandmuster am Strand wurden Partituren, die vogelartig schw�rmende MusikerInnen des „Ersten improvisierenden Streichorchesters" nach musikalischen Regeln interpretierten. Die 14-teilige Geometrie der katholischen Kirche wurde zur Ma�einheit eines Rituals, in dem T�nzerInnen, SolistInnen und StreicherInnen einander in drei Tempi mono-ton umkreisten. Die ersten r�tlichen Strahlen der Morgensonne wurden kurz nach 7 Uhr im „Friederikenw�ldchen" von einigen Dutzend in den B�umen versteckten MusikerInnen eingefangen und in Kl�nge umgesetzt, w�hrend Trompeten sich von fernen D�nen aus Weckrufe zuspielten. Nachts suchte der unerm�dliche Teil des Publikums im weitverstreuten Hafen- und Deichgel�nde nach versteckten SpielerInnen, die mit V�geln und Fr�schen Zwiesprache hielten. Im Kurpark begann p�nktlich um 16 Uhr das Kurkonzert - nur da� auf den St�hlen der Konzertmuschel Ghettoblaster sa�en, die mit Musi-Cassetten gef�ttert wurden, welche „klingende Statuen" zuvor bespielt hatten. Und in der Mitte einer 800 m gro�en Sandfl�che im Osten der Insel zogen musizierende Karawanen ihre vorgezeichneten Bahnen durch den Sand. ting2_2.jpg (22242 Byte)

„Begreift man einen Ort als lebendiges Wesen, ebenso wie einen Baum oder das Meer, so kann der Mensch mit einer k�nstlerischen Aktion in einen wirklichen Austausch treten". So beschreibt Willem Schulz seine Konzeption, die �ber drei Tage ein bunt gemischtes Volk von Kurg�sten und InsulnerInnen anzog. Nur wenige taten dies aus Kunstinteresse und mit dem Programmheft in der Hand. Viele lie�en sich treiben oder in ispontaner Neugier einfangen und verlie�en nach einiger Zeit wieder die in der Partitur vorgezeichneten Bahnen der MusikerInnen.

Kein Urlaubsgast schien gest�rt, provoziert oder irritiert von solcherart Kommunikation mit der Natur. Die Adorno-These der Musik-Avantgarde, Neue Musik m�sse das Alltagsbewu�tsein provozieren und jedes „Lauf-Publikum" in die Flucht schlagen, solle Musik noch ihrer „bewu�tseinsbildenden Aufgabe" nachkommen, haben die Touristen von Spiekeroog an diesem LandArt-Wochenende widerlegt. Dabei h�tte die vielst�ndigen Musik, die im Laufe der 8 „Konzerte" erklungen ist, in jedem anderen Zusammenhang die Frage verdient, ob dies denn noch Musik sei. Doch hier stellte sich die Frage einfach nicht. Das Publikum bemerkte, da� sich der Sinn dieser Musik nicht aus ihrem Material, sondern aus der Situation an den bespielten Orten ergab: „Musik, die den Eigenarten, den feinstofflichen Stimmungen und Schwingungen, den Zeichen eines Ortes lauscht und sich dem Prinzip von Geben und Nehmen hingibt, kann zu neuer Erfahrung wie auch zu neuem k�nstlerischem Material f�hren" (Willem Schulz). Solche Erfahrungen k�nnen den Orten die ihnen eigne Musik zur�ckspiegeln: Ein Wald beispielsweise erscheint von Ferne als amorphe gr�ne Einheit und entpuppt sich erst, wenn man hineingeht, als eine Lebenswelt von einzelnen Wesen. Ein Orchester wirkt, frontal pr�sentiert, als einheitliche Masse. Und erst wenn man durch es hindurch geht, zum Beispiel dann, wenn die SpielerInnen in den B�umen eines Waldes verteilt sind, erscheint es als ein Netzwerk von vielen musikalischen Individuen. Der musikalische Zusammenhang, den die H�rerInnen auf ihrem Waldspaziergang erfahren k�nnen, ist dabei der usammenhang des Organismus „Wald".

ting2_3.jpg (27205 Byte)W�hrend sich heute Musikveranstalter, Agenturen und Musikverlage alle M�he geben, auch f�r bewu�tseinserweiternde Produkte ein Publikum zu finden, konnte es sich das Erste improvisierende Streichorchester in „ting II" erlauben, vor einer ihm nachfolgenden Strand-V�lkerwanderung stundenlang davon zu rennen. Es konnte sich immer wieder an der untersten H�rgrenze bewegen oder sich regungslos in einen Park stellen, um die Spazierg�ngerInnen sehr, sehr lange auf einen einzigen Ton warten zu lassen. Die physischen Leistungen der MusikerInnen grenzten dabei ans Akrobatisch-Athletische. Sie joggten �ber 4 Kilometer, geigten oder bliesen dabei. Und dann standen sie wieder 60 Minute regunglos als Statue. Doch auch die k�rperliche Leistung, die jenem Teil des Publikums abverlangt wird, der sich nicht nur treiben lie�, sondern das gesamte LandArt-Geschehen mitbekommen wollte, war nicht zu untersch�tzen. Gehwege von 6 oder 8 Kilometern pro „Konzert" konnten schon vorkommen. Die Hilfen, die eine Pferdebahn als Zubringer leistete, war demgegen�ber gering.

Das Publikum schien der Musik so bereitwillig zu folgen, weil die Choreografie fast kreat�rlich der Insellandschaft und dem Urlaubsvergn�gen entwuchs und weil gleichzeitig zu sp�ren war, da� nirgends Beliebigkeit herrschte. Charakteristische Signale, gewisse Gesten des Beginnens, Endens oder Weitermachens, des Einladens und Vorbeiziehens verbanden die Orte und Stunden dieses Wochenendes als szenisch-musikalisches Leitgeschehen. Fanfaren, Glocken oder Beckenschl�ge markierten die Gro�form, langsame Dreh- oder Gehbewegungen artikulierten den Zeitablauf im Kleinen, immer wieder stand die Zeit dann auch still, Raum f�r ein Solo oder eine Antwort aus der Tier- oder Pflanzenwelt auf die Menschenmusik. Der Komponist hatte sich bei den Vorbereitungen des Projekts von Insulanern alle bedeutungsstarken Orte der Insel zeigen lassen und dann 7 ausgew�hlt, die ihn besonders ansprachen. „Hier lie� ich mich zu Musik inspirieren, die nach meinem Eindruck zu den einzelnen Pl�tzen geh�rte. So entstand f�r jeden Ort eine eigene Komposition und Choreographie" (Willem Schulz).

Musikalischer Rhythmus war �berwiegend im Makrobereich von Minuten und Stunden zu erfahren, durch Wiederholungen, wie sie nur der Urlaub zul��t, wurde das Detail zum Ritual. Programmatisch f�r dies Prinzip war das Konzert in der ersten Nacht, wo ein Gong in 56 Minuten einmal um den Altar der Katholischen Kirche getragen wurde, der auch als Trommel diente. In weiser Vorsicht hatte der Kurpfarrer zuvor das Ewige Licht aus seiner Kirche entfernt. Wer konnte auch wissen, welche Geister hier gerufen werden!

Bewunderung zollte das Publikum nicht nur dem Ideenreichtum des Komponisten und dem physischen Leistungsverm�gen der MusikerInnen. Bewundert hat es immer wieder auch die �berzeugende Konzentriertheit der Mitwirkenden: wenn sich beispielweise zwei GeigerInnen 60 Minuten lange im Derwischkreis um ihre Achse drehten oder wenn eine Karawane mit drei Kontrab�ssen in 30 Minuten eine Diagonale von 800m �ber eine weite Sandfl�che zur�cklegte. Konsequenterweise kannte „ting II" trotz der r�umlichen Durchdringung von Publikum und Darbietenden keinerlei spielerische Mitmachaktionen, keinen Kinderulk, keine Publikumsbeschimpfungen, keine �berraschungsgags. Die Rollendistanz zwischen Publikum und Darbietenden war beabsichtigt, die Form einer jeden Einzelaktion zeitlich und r�umlich klar abgegrenzt. Im Gegensatz zum instrumentalen Theater Kagels, dessen Witz einem im Halse stecken bleiben soll, oder zu den Wandelkonzerten Stockhausens, die verzerrte Konzertdarbietungen sind, oder zu den unz�hligen Klanginstallationen, in denen das Publikum mit Sensoren abgetastet wird, wirkte Willem Schulzens LandArt unverkrampft, gelassen und sch�n....Keine M�llkippe, kein naturbelastetes Abwasser, keine Nordseeverschmutzung, kein toter Vogel und kein leidenes Robbenbaby wurden gezeigt. Selbst der Rost am „alten Anlieger" schien nostalgisch verkl�rt. ting2_1.jpg (29073 Byte)

Hatte hier ein Komponist geschickte Werbung f�r ein Touristenparadies inszeniert, das die Begierigkeit, mit der umweltgeplagte Deutsche nach Natur-Illusionen greifen, in klingende M�nze umsetzt? Die Antwort auf diese Frage gab mir die ganz ungew�hnlich glatte Nordsee, als ich am Sonntagabend die Insel Spiekeroog wieder verlie�. Die Schiffsirene gab ihr gewohntes, langes Signal. Ich sah den Festland-Alltag wieder auf mich zuschwimmen. Und meine Haut war sonnverbrannt. Dabei hatte der Wetterdienst f�r das Wochenende Sturmb�en, Regen und K�lte angesagt. Willem Schulz hat im Programmheft geschrieben: „Da ting II ein Spiel mit der Natur ist und diese ein Lebewesen ist, das nicht einfach nur zu nutzen ist, wird die Realisation von ihrer sensiblen Zu"stimmung" abh�ngen: mit Wind und Wetter wird sie ihre Bereitschaft �u�ern". Eine erstaunlich konsequente und mutige �u�erung, der gegen�ber die Frage verstummt, was bei Regen gewesen w�re. Eine �u�erung, die keine Kurverwaltung wagen k�nnte. Die Natur aber hatte sich an diesem Wochenende gegen die Metereologen und f�r „ting II" entschieden: sie schickte die Sonne und lie� Regen und Wind zuhause und legte das Meer still.

Wolfgang Martin Stroh