zur Indexseite Musiktheaterpädagogik S 2003/04
Blatt 13 und Blatt 13a
Kriterienkatalog „Musiktheaterprojekte" (Entwurf 1/2004)
Definitionen
Betrachtet werden Musiktheaterprojekte mit folgenden Eigenschaften:
die Unterrichtsform ist die eines „Projekts",
Mitwirkende sind entweder ganze Schulklassen oder Arbeitsgemeinschaften,
im Projekt gibt es eine professionelle Betreuung des Einsatzes von Musik,
als Produkt/Veröffentlichung wird eine Aufführung angestrebt.
Damit entfallen:
der Einsatz von szenischem Spiel als Methode des Musikunterrichts ohne Projektform,
Theateraufführungen ohne professionelle Musikbetreuung (ohne Musiklehrer/in),
Einstudierungen von fertigen Musicals - gegebenenfalls mit Playbackmusik -, die die Projektkriterien nicht erfüllen.
Wir unterscheiden zwischen
Projektkriterien
1. Thematik
Die Thematik ist gesellschaftlich relevant und politisch wie pädagogisch zu verantworten. Die Geschichte, in die die Thematik gekleidet wird, kann dabei durchaus fiktional, märchenhaft, absurd oder historisch sein. Eine fremde Geschichte kann eine vertraute Thematik darbieten.
Die Thematik ist für die Schüler/innen gemessen an ihrer persönlichen Entwicklung und Interessenlage relevant. Die Auseinandersetzung mit der Thematik gehört zu den biografischen Entwicklungsaufgaben des entsprechenden Alters. Sie kann dazu dienen, dass sich Schüler/innen ihre eigenen Interessen bewusst machen, sie artikulieren und zur Diskussion stellen können.
Die Thematik ist offen und problemorientiert, sie ist entwickelbar und perspektivisch. Die Thematik enthält keine fest stehenden Lehrmeinungen, herrschende Normen oder abgeschlossene Wertesysteme. Sie ist vielmehr dazu geeignet, die Dialektik und Veränderbarkeit von Meinungen, Normen und Werten sowie die Lösbarkeit von Problemen zu erkennen und Handlungsperspektiven aufzuzeigen.
Die Thematik ist „musikalisierbar". Das heißt sie soll geeignet sein, mit kreativ-künstlerischen, insbesondere musikalischen Mitteln bearbeitet, in eine Geschichte umgesetzt, in einer Vorführung realisiert und dadurch ästhetisch angeeignet zu werden.
Bemerkung: Ob die Thematik von den Lehrer/innen vorgegeben, aufgrund vorangegangener Diskussionen mit den Schüler/innen von den Lehrer/innen vorgeschlagen oder von den Schüler/innen alleine entwickelt wurde, ist für die genannten Kriterien nicht ausschlaggebend. Keines der drei Verfahren garantiert, dass die genannten Kriterien erfüllt sind, und keines verhindert dies.
Die Entwicklung der vorführbaren Geschichte aus der Thematik folgt
(1) pragmatischen,
(2) dramaturgischen,
(3) didaktisch-methodischen und
(4) ästhetischen
Kriterien. Diese Entwicklung geschieht kooperativ und arbeitsteilig. Das heißt, an dieser Entwicklung sind die Schüler/innen und Lehrer/innen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Rollen beteiligt. Die Lehrer/innen sind primär für die Beachtung der 4 Kriterien zuständig.
Innerhalb dieses Rahmens „entfalten" die Schüler/innen mit der Entwicklung der Geschichte die Thematik gemäß ihren Interessen und Fähigkeiten, ihren Weltsichten und Phantasien. Sie konkretisieren die Thematik und beziehen sie auf sich selbst. Dabei hat der Rollenschutz eine wichtige Funktion.
Einzelne Verfahren der Entwicklung der Geschichte:
Extremfall 1
Es wird ein fertiges Textbuch
verwendet und auf die gegebenen Verhältnisse angepasst. Beispiel
„Blues Brothers“ und „Reinecke Fuchs“. Hier ist Schülerorientierung
durch die Diskussion dieser Vorlage und die „Aneignung“ derselben möglich.
Die Diskussion am Rande der Probe im NGO vom 29.1.2004 hat diesen Aspekt
beleuchtet, als mehrere Schüler/innen sagten, dass sie anfangs die Geschichte
uninteressant gefunden, sich dann aber im Laufe der Proben immer mehr damit
identifiziert hätten. Die Identifikation lief über die Rolle und das Spiel und
weniger über die literaturwissenschaftliche Lektüre oder Analyse des Inhalts.
Zugleich aber sagte ein Schüler, dass er auch die Aktualität der Thematik
entdeckt habe.
Zwischenstufe 1
Prosatext oder eine sonstige „Fassung“ (Bilderbuch, Comic, Film, Gedicht) liegt vor und wird gemeinsam in ein Libretto umgearbeitet. Beispiele: Herr der Fliegen, Eifer sucht Musik, Ronja Räubertochter usw.
Zwischenstufe 2
Thematik liegt vor und wird zunächst unabhängig vom Theaterspiel erarbeitet. Zum Beispiel Indianer oder Jugendkultur der 50er Jahre. Dabei entstehen „Materialien“, die später zu einem Theaterstück gefügt werden, z.B. bei „Indianerleben“ oder „ZappIn“.
Extremfall 2
„Alles“
wird von den Schüler/innen entwickelt. Ziel des Projekts ist ausschließlich,
dass irgendetwas produziert wird, und nicht mehr, dass eine bestimmte Thematik
erarbeitet wird. Das Verfahren, das in Idealfall keinerlei Voraussetzungen
verwendet, ist das von „Write an Opera“.
Beispiel 1 (Level 1 „Write
an Opera“ London, nach Beiderwieden) Theme: ein Wort oder
wenige Wörter („schreibe in einem Wort etwas auf, was dir in deinem
eigenen Leben ganz besonders wichtig ist!“), Thesis: ein Satz; Characters and needs:
5 oder 6 characters, die
mit A bis F bezeichnet werden, je ein oder zwei zentrale Bedürfnisse,
die konfliktträchtig werden önnten, Primary relationships:
eine Art Landkarte, Conflict: genaue
Anweisungen, z.B. zwei Charaktere geraten in Konflikt über einen
dritten, zwei weitere werden involviert, Synopsis: 6 bis 10 Sätze,
die den Konflikt in einen dramaturgischen Ablauf bringen, gegliedert
nach Eröffnung – Konflikt - Lösung, wobei die Charaktere noch
„abstrakt“ bleiben; A, B, usw., Scenario: Entscheidung
über konkrete Ausfüllung der Charaktere und Szenen: Geschlecht,
Schauplätze, konkrete Pläne, Intrigen, Verwechslungen, Narrative oder Act design: das genaue Libretto mit allen Ausführungsangaben oder eine grafische Skizze der Akte (Kontraste, Überraschungen, große Songs, Höhepunkte). |
Beispiel 2 („Live Opera in
the classroom“, Workshop Toulouse) 1. Creating a story: An
everyday activity – an unusual occurence – argument – the moral of
the story . 2. Developing the Drama: what
happened before the scene 1, what after that. 3 possible types of
structures of history-now-future. 3. Character portrayal: who
– what – how – where – when? (= Entwicklung von Rollen gemäß
Methoden der szenischen Interpretation/Rollenbiografien.) 4. Creating Chorus: writing
chorus (what is their purpose, who sings them, when do they occur?),
creating words, activating the chorus (many different methods). Siehe
unten! 5. Designing your opera. |
Bemerkung: Die szenische Improvisation, die bei der Entwicklung der Szenen aus gewissen Vorlagen bzw. Vorgaben eingesetzt wurde, dient oft nur „Erarbeitung einer Vorführung“, kann aber auch zur Entwicklung der Geschichte verwendet werden. Meist liegt die Thematik (der Kern der Geschichte) fest und wird durch szenische Improvisation bildlich gestaltet und in eine Szene umgewandelt. Im Grund hat man drei Erarbeitungsetappen, die aber nicht zeitlich hintereinander liegen, sondern einander beeinflussen und somit im zeitlichen Zickzack-Kurs durchlaufen werden.
2. Erarbeitung (einer Vorführung)
Die Entwicklung der Geschichte und die Erarbeitung einer Vorführung finden nicht getrennt hintereinander, sondern parallel statt. Anfangs steht die Entwicklung der Geschichte im Vordergrund, später ist es die Erarbeitung der Vorführung.
Die Interessen und Fähigkeiten, die Weltsichten und Phantasien der Schüler/innen gehen dabei nicht nur in die Entwicklung der Geschichte sondern auch in die Erarbeitung der Vorführung ein.
Während die Entwicklung der Geschichte eher produkt- bzw. objektbezogen und „pragmatisch" erfolgt, ist die Aneignung der Thematik im Zuge der Erarbeitung der Vorführung eher körper- und subjektbezogen und hat Selbsterfahrungscharakter.
Einzelne Verfahren der musikalisch-szenischen Erarbeitung:
Parallel zur musikalisch-szenischen Erarbeitung findet die Entwicklung und Herstellung von Verkleidung, Requisiten, Kulissen, Lichteffekten, das Schminken usw. statt. Hierfür gelten dieselben Kriterien, die auch für die musikalisch-szenische Erarbeitung gelten.
Die Erarbeitung der Vorführung ist ein aktiver, bewusster und selbstbestimmter Lernprozess. „Aktiv" bezieht sich nicht auf „Aktionismus", sondern auf die kreative Gestaltung dessen, wie man handelt und agiert. „Bewusst" schließt Reflexion, Diskussion, Innehalten, Korrigieren/Verändern, Verbessern etc. mit ein, ist also nicht einfach „Nachdenken" oder „klug Reden". „Selbstbestimmt" ist jede Handlung, die man selbst verantworten kann, bei der einschränkende Rahmenbedingungen bewusst gehandhabt, die Mitspielenden berücksichtigt, aber auch die eigenen Interessen artikuliert und sozial realisiert werden.
3. Musikbetreuung
Die Schüler/innen sind keine professionellen Musiker/innen und streben auch nicht an, „so ähnlich wie Profis" zu sein. Sie sollten vielmehr aufgrund professioneller musikpädagogischer Beratung und Anregung
Musikalische Kriterien sind (soweit nicht unter Punkt 2 bereits mit eingeschlossen):
Verfahren der Musikbetreuung:
„Komponieren"/Erfinden/Entwickeln
Zur musikalische Kriterienliste
(zu Punkt 3 von Blatt 13):
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Negativ-
und Positiv-Beispiele? |
Inhaltlicher
Bezug der Musik zur Thematik? |
„Authentische
Musik“, historisch-verfremdende Musik, nur Rhythmen, nur
Sprechgesang... |
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Unterstützt
Musik die szenische Darstellung? |
Gestische
Musik, Musik und Bewegungsabläufe, Musik erzeugt szenische
Spannung/Kontrast... |
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Entspricht
Musik strukturell dem Szenenablauf ? |
Verhältnis
der Teile mit und ohne Musik, musikalische Gliederung der Szene, Tempo
der Szene... |
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Identifikation
der Schüler/innen mit der Musik? |
Durch
Verwendung von „Jugendmusik“ oder indem die Schüler/innen selbst
komponieren oder die/den Komponist/in/en beeinflussen |
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Drücken
sich die Schüler/innen musikalisch aus? |
Tritt
die technische Bewältigung der Musikdarbietung hinter
Sich-musika-lisch-ausdrücken-Können zurück? |
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Ist
die Musik für ein Publikum interessant? |
Problem
vorgeführter Improvisationen, des Selbstgemachten... |
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Ist
die Musik intelligent („gut“)? |
„Musikpädagogische
Musik“? Klischees
ohne Sinn oder Funktion? |
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Zum Verfahren der Musikproduktion:
Beispiel 1: Creating Chorus (within „Writing an Opera in the Classroom“) 1. Initial decisions: What is their purpose? (providing a narration for the whole story – commenting the action – abstract developments of the music and drama), Who sings them? (crowds like neighbours, forest animals, factory workers, everyone, who is in the scene, some kind of „audience“) When do they occur? ( in between scenes, during scenes as part of action, at certain points of action). 2. Creating words: taking words from the scene oder creating new words. Tips: Explore the rhythm of each line by clapping it as a group changing which words are emphasised; split into groups and explore how rhythms overlap, does it work as canon or drone with others spoken on it; make choice about dynamics, tempo, color of the sound needed to compliment the scene. 3. Activating the chorus: Warmup; invent a still position to express the idea in the first line of the chorus, aks someone to „fix“ his most important first idea of the chorus („Stzandbild“), all fix, go on with next line, everyone copies, make a move, invent more moves... run the sequence through and deciede whether the moves should become personal and naturalistic or become more stylised like a choregraphed dance. |
Beispiel 2: Chorus writing (aus Programm Welsh National Opera and Royal Opera Houses London) 1.
Chorus writing: trusting in a group’s natural harmony, set ryhthmic
patterns, cadences/augmentation/ diminution, bass line hitches, canonic
verses, changing time. 2. Writing for
ensemble: focus an small amount of text, break the text in short
exclamations, choose contrasting rhythms, create small spoken pieces (in
groups), transfer vocal into instrumental. 3. The dramatic
Ouverture: experiment with three chords, create a motife using the
chords (a sight, a sound, an emotion, an influence). Bemerkung: Bei „Write an Opera“ wird häufig nur mit Ostinati und elementaren Rhythmen gearbeitet, also nicht einmal Melodien mit Harmonien (Songs). Der Wechsel Solo/Rezitativ, Solo/Gesang und Chor ist wichtig. Zum Chor gibt es mehr Ausführungshinweise als zu den Solos! (Vermeidung von Solisten-Problemen.) |
Wie äußert sich die
Dummheit in der Musik?
Dummheit
in der Musik kann sich in Tönen ausdrücken, Tonverbindungen können als dumm
bezeichnet werden. Aber auch die allgemeine menschliche Dummheit kann in der
Musik verbreitet sein. Bei Vokalwerken ist es das Verhältnis der Musik zum
Text.
Was
produziert in unserer Zeit die Dummheit in der Musik?
Abwendung
von, Uninteressiertheit an und Abscheu vor der Politik.
Ist
Ihnen bekannt, Eisler, dass solche Abneigung auch ein politisches Verhalten ist?
Gewiss
- und das ist Verfall....
Wird
nicht die Dummheit in der Musik vom Hörer mit produziert?
Unbedingt.
Bedenken Sie, dass selbst in unserem Staat, in dem das Bildungsprivileg
gebrochen [ist], Musikkultur noch in ihrem frühen Anfang steht.
Es ist seltsam, sich eingestehen zu müssen, dass es leichter ist, eine
Formel der modernen Physik - wie die berühmte Albert Einsteins: E = mc2
zu erklären und zu popularisieren als das
Streichquartett f-Moll op. 95 von Beethoven.
Wir können rascher ein Atomkraftwerk bauen und eher auf den Mond gelangen, als es uns gelungen sein wird, das große Erbe
der klassischen und der modernen Musik so anzutreten, dass es Besitz des werktätigen
Volkes ist. Denn
leider muss das Hören von Musik geübt werden.
Geschieht das nicht, so bleibt das Hören auch hinter dem
fortschrittlichsten gesellschaftlichen Bewusstsein zurück.
Für
viele, Eisler, dürfte das eine völlig abwegige Bemerkung sein?
Ja. Oft
simplifizieren wir diesen Zustand. Gibt
es doch den gedoppelten Irrtum. Wenn
die einen sich von dieser Feststellung als einer nicht verfeinerten, einer vulgären
abwenden, so werden andere das nur gefinkelt finden. Ist nicht - so werden sie
sagen - dem gesunden Empfinden des Volkes ohne weiteres große Musik zugänglich,
und verfällt nicht große Musik automatisch im späten Kapitalismus?
Das wäre eine Art
der Spontaneitäts-Theorie in der Kunstbetrachtung.
Bei uns die Blüte - drüben der Verfall, das ist großartig!
Gewiss. Aber die Blüte muss täglich aufs neue von uns erarbeitet und erkämpft werden. Verlassen wir uns nicht zu sehr auf die geschichtliche Entwicklung. Ich warne vor Überheblichkeit.
Sie
halten also beides für dumm: die Gesamthaltung des Komponisten und die
eigentliche Kompositionsmethode?
Ja.
Sie produzieren einander, widerspruchslos.
Würden Sie auch die sogenannte Spielmusik-Bewegung
als dumm bezeichnen?
Ja. Denn wenn man von gemeinschaftsbildender Spielfreudigkeit
spricht, werde ich misstrauisch und denke sofort, was für eine Gemeinschaft
wird denn da gebildet werden und warum diese Musikstücke, die meistens
barockisieren, Spielfreude produzieren sollen. Das ist schlechte Musik.
Ist nicht schlechte
Musik immer dumm?
Nein. Schlechte
Musik kann verkommen sein, aber, sie muss eine niedrige Sinnfälligkeit haben,
um bestehen zu können.
Verstehen
Sie unter schlechter Musik
die sogenannte platte Tanz- und Unterhaltungsmusik?
Ja. Sie ist
um so gefährlicher, je mehr sie kommerzialisiert wird.
Und
die halten Sie nicht für dumm?
Gefährliche
Dinge sind leider meistens nicht dumm. Übrigens
möchte ich mir jetzt widersprechen und Ihnen etwas
zu bedenken geben, das ich "Lob der schlechten Musik" nennen möchte.
Die nachfolgenden Sätze finden Sie in dem
Jugendwerk “Frühe Freuden” des französischen Schriftstellers Marcel
Proust: "Werft auf die, schlechte Musik euren Fluch, aber nicht eure Verachtung! Je mehr man die schlechte
Musik spielt oder singt (und leidenschaftlicher als die gute), desto mehr füllt
sie sich an mit den Tränen, den Tränen der Menschen. Ihr Platz ist sehr tief
in der Geschichte der Kunst, hoch aber in der Geschichte der Gefühle innerhalb
der menschlichen Gemeinschaft...”