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Analyse der Musik der "Wiener Schule" (Schönberg, Berg, Webern)

Th. W. Adorno: Der getreue Korrepetitor. Ffm. 1963. S. 137-141. Webern, opus 9.

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Das zweite, ungemein schwierige Stück habe ich einen Walzer genannt. Ich hätte das nicht gewagt, wenn nicht Webern gern anderen Stücken derlei Ausdrücke verwandt hätte. Gewiß könnte man mir entgegenhalten, es fehle dem Stück das Charakteristischeste des Walzers, der Dreiviertel-Rhythmus. Es ist von Anfang bis zu Ende im Fünfviertel-Takt geschrieben. Trotzdem erinnert es an den Walzer, einen verfremdeten gleichsam, auch einen, der stecken bleibt; eine Idee übrigens, die bereits dem Impressionismus nicht fremd war: von Debussy gibt es eine Serenade interrompue. Mein Rat wäre, das Stück wenigstens in seiner ersten Kurzstrophe, bis zum Ritardando gegen Ende von Takt 2, so zu spielen, daß walzer- oder reigenhafte Züge, wie der auftaktige Schwung des Anfangs, der markierte Pizzicatobaß auf 1, die Phrasenwiederholungen zunächst einmal auffallen.

Die Beschädigung widerfährt dem Ablauf potentiell bereits in diesen - erschrecken Sie nicht - von der Salonmusik her vertrauten Motivwiederholungen; Webern komponiert gewissermaßen das Unglück aus, das solche konventionelle Floskeln in jener Musik bereiten, ohne daß sie es wüßte. Das Störungsmoment wird verstärkt durch synkopierte Einsätze von Bratsche und Cello. In einer zweiten Strophe (Auftakt vor Takt 3), wenn man diese kurzen Ansätze so nennen darf, spaltet sich zunächst der Zusammenhang weiter auf. Sie benutzt dann jedoch abermals Wiederholungen einer zweitönigen Gruppe in der Bratsche. Mit derart offenen motivischen Ähnlichkeiten verfährt Webern so sparsam, daß diese diskret zu unterstreichen, also die Bratschenstimme in Takt 3 mit dem Crescendo deutlich zu machen wäre. Sie dürften bemerkt haben, daß gegen Ende die Phrase sich verjüngt. Auf Cello und Bratsche verteilt sich eine Triole; sie muß sich plastisch zusammenfügen. Diese rhythmische Intensivierung ist gewissermaßen ein Doppelpunkt vor den kritischen Takten 4 und 5. In diesen lebt, mit ein paar längeren Noten, das Stück kurz melodisch sich aus. Dadurch, daß Takt 4 in zwei und drei Viertel und Takt 5 in drei und zwei Viertel geteilt ist, folgen zwei Dreiviertelgruppen aufeinander. Damit ist eine rudimentär walzerhafte Dreiviertel-Wirkung erzielt; auch der auf schlechtem Taktteil einsetzende Rhythmus des Cellolcontrapunkts ist dreiviertelähnlich. Nach dem ersten der restlichen zwei Viertel unterbricht eine Generalpause, so daß sie das Gefühl des ungeraden Taktes nicht ernsthaft behelligen. Die Verbreiterung zur DreiviertelMelodie spiegelt sich in einem Ritardando.

Die Mittelpartie dankt ihre festere Gestalt der rhythmischen Homogenität dreier sich überschneidender Instrumentalstimmen: der zweiten Geige, noch höher der ersten und des Cellos. Alle frei beginnen mit einem gedehnten Viertel, auf das zwei gewöhnliche folgen; die beiden letzten Phrasen enden, quasi auf z, mit einem weiteren Viertel. Hauptsache für die Wiedergabe ist die genaue rhythmische Proportion dieser drei Stimmen. Wie im ersten Stück stellt sich danach zum Ausgleich das Anfangstempo wieder her, nur diesmal nicht ein langsameres sondern ein rascheres als das im Mittelteil. Aber der Ausgleich hat unmißverständlichen Codacharakter, den einer Stretta: es soll gewissermaßen durch eine Beschleunigung wiedergutgemacht werden, was im Ritardando an Zeit vergeudet ward. Wiederum wird Korrespondenz durch Fragmente suggeriert. An den Anfang des Stücks erinnert ein zweitöniges Motiv des Cellos; Wiederholungen eines ebenfalls zweitönigen Motivs in erster Geige und Bratsche sind vag analog den Motivwiederholungen in den beiden ersten Strophen. All das aber ist ins Unwägbare geschrumpft, die Stretta eilt nach einer letzten ritardando-Störung darüber hinweg zum hastigen Schluß.

Aufgabe der Interpretation ist vor allem die Gliederung nach Formteilen: erst also die quasi-Walzereinsätze, der zweite dem ersten gegenüber schon verkürzt, dann das sich Dehnen in Takt 4 und 5 und dann die Coda. Besonders darauf ist zu achten, daß die agogischen Modifikationen in dem Tanzstück nicht übertrieben werden, sondern daß es nur, wie man so sagt, natürlich ausgespielt oder zusammengedrängt wird, wie Walzer durch Rubati. Die Übertreibung solcher Modifikationen zerrisse das sehr kurze, nur andeutend geformte Stück so sehr, daß es erst recht chaotisch würde. Die Kunst ist es, derlei Musik in einem Atem vorzutragen und dennoch in sich gegliedert.

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Das dritte Stück beginnt mit einem von einem Akkord der Geigen begleiteten Rezitativ der Bratsche, oder vielleicht richtiger: einem breit auskomponierten Auftakt. Den Auftaktcharakter wohl meint das Ritardando, das Webern über den ersten Takt schreibt: das Haupttempo stellt erst im zweiten sich her. Die Bratsche soll ihre Quintole frei, improvisierend ausspielen.. Das folgende flageolett-fis des Cellos ist der Endton der Bratschenphrase und zugleich der erste eines neuen Komplexes. Es muß die Bratsche unbedingt bruchlos fortsetzen; wiederum problematisch wegen der Farbdifferenz von natürlichem und flageolett-Klang. Nicht nur sollte das Cello ohne die geringste Zäsur an das d der Bratsche sich heften, sondern auch genau ihr Diminuendo zu Ende führen; also um eben dieselbe Nuance leiser sein als das d der Bratsche, wie dieses leiser war als das vorhergehende as. Der gesamte zweite Takt ist kaum mehr als ein raschelndes Begleitsystem, und darum die bezeichnete Dynamik crescendo und diminuendo äußert diskret zu bringen, so daß keine der Stimmen als thematisch mißdeutet werden kann. Im dritten Takt löst sich von diesem Hintergrund die melodische Hauptstimme der zweiten Geige. Ihr c und e variiert ihre vorhergehenden Begleittöne h und f. Demgemäß muß die Stimme, während das Begleitsystem fortdauert, sich gleichsam dem Klangdessin entringen, wohl erst auf dem e wirklich durchdringen; von da ab jedoch bis zum Takt 5 in wirklichem Ausbruch sehr schnell sich steigern. Selbstverständlich setzt die Quintole der ersten Geige am Schluß des vierten Taktes die zweite Geige melodisch unmittelbar fort, darf also, trotz deren Crescendo, bei ihrem ersten Ton nicht von dem hohen es gedeckt werden.

Ausschlaggebend, und nach meiner Erfahrung schwer darzustellen, ist der fünfte Takt. Er exponiert das rhythmische Modell für den ganzen Rest des Stücks. Alles Spätere hängt davon ab, daß sein Rhythmus, die vier aufeinander folgenden Sechzehntel-Einsätze und dann die beiden in Achteln, unbedingt klar werden. Bei den Proben empfiehlt es sich, diesen an sich einfachen, aber aus den Einsätzen aller Instrumente in kürzesten Abständen sich zusammensetzenden Rhythmus zunächst einmal so zu klopfen, daß jeder der vier Spieler seine Rolle genau kennt:

Erst wenn dies rhythmische Schema ganz fest steht, kann das mit dem vorhergehenden Takt schon beginnende Accelerando getroffen werden. Alles, was folgt, ist Wiederholung und Liquidation jenes Rhythmus und der Akkorde, die ihm sich zuordnen und sollte daraus von selbst resultieren. Die Kurve des Stücks, wäre also: eintaktiges Rezitativ, Begleitsystem, ausbrechender Aufschwung der Hauptstimme im vierten und fünften Takt, rhythmischer Zentralkomplex bis zum Höhepunkt in Takt 6, und dann ein Abklingen, ins Rascheln zurück. Hat man einmal den Gestus des Stücks mitvollzogen, so ist es nicht allzu schwierig.