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(publiziert in Musik & Bildung 3/1999 unter dem Titel "Ich verstehe das, was ich will!")

Handlungstheorien nach dem Musikpädagogischen Paradigmenwechsel

Von der Tätigkeitspsychologie zur szenischen Interpretation

Dieser Aufsatz ist in mühevoller "Zusammenarbeit" mit meinem Kollegen Hermann J. Kaiser enstanden. Es war die längst vergangene Zeit, als "Musik & Bildung" einmal im Jahr ein Theorieheft herausgegeben hat. Und 3/1999 war dann "Handlungstheorie" dran, betreut von Hermann J. Kaiser. Kaiser formulierte zu meinem ersten Entwurf zahlreiche Fragen, die ich zu beantworten und deren Antwort ich einzuarbeiten versuchte. Die Zusammenarbeit war sehr produktiv. Kurz darauf, so konnte ich feststellen, hatte Kaiser einige tätigkeitstheoretische Ideen in sein persönliches Theoriegebäude integriert. Im Endeffekt entstand ein Artikel, der zumindest für mich epochemachend war. Ich formulierte zum ersten Mal den "Konstruktivismus" unter der Formel "ich verstehe das, was ich will" und nannte meine Einsicht einen "Paradigmenwechsel". Ob ich "der Erste" war, der den Konstruktivismus in die Musikpädagogik einführte, behaupte ich nicht, denn Christoph Louven hatte 1997 auf der Jahrestagung der Musikpychologischen Gesellschaft ein Referat zu "Hören als Konstruktion. Konsequenzen eines hörerzentrierten Musikbegriffs" gehalten. Und Markus Kosuch entdeckte um 2000 die Konstruktivistisches Pädagogik Kersten Reichs (1997) für die Szenische Interpretation. Das Zweite, was diesen Aufsatz auszeichnet, ist die (auf Kaisers Bitte hin eingefügte) Kurzfassung meiner "Psychologie Musikalischer Tätigkeit", die ich 1984 in Buchform formuliert hatte. Die dritte Besonderheit des vorliegenden Artikels ist es, dass ich hier erstmals explizit den Bogen von der Tätigkeitspsychologie zur Szenischen Interpretation geschlagen habe. Wer immer schreibt - und das haben inzwischen Dutzende getan -, dass die Szenische Interpretation von Musik und Theater in der Tätigketispsychologie begründet sei, der muss und kann den vorliegenden Aufsatz lesen und zitieren. Kurzum: ich bin der Meinung, dass dieser Aufsatz als Ergebnis eines produktiven Diskussionsprozesses zweier musikpädagogischer Rivalen ein ziemlich zentrales und wichtiges "Papier" für alle darstellt, die sich für Theoriebildung interessieren.

Zur Orientierung

In den ersten wichtigen Konzeptionen eines handlungsorientierten Musikunterrichts stand das Phänomen der musikalischen Kommunikation und folglich das Leitziel des "Hörens und Verstehens" von Musik im Zentrum wissenschaftlichen Interesses. Unaufhaltsam hat sich sowohl in der Praxis des Musikunterrichts, als auch in der didaktischen Begleitreflexion inzwischen ein Paradigmenwechsel vollzogen, infolgedessen auch das Leitbild des Hörens und Verstehens an Kraft verloren hat. Der Handlungsbegriff erlebt zwar in einer popularisierten Form eine musikpädagogische Nachblüte, zugleich steckt er als theoretische Kategorie in einer Krise. Hans Bäßlers "Überlegungen zu einer an sich selbstverständlichen Voraussetzung des Musikunterrichts" im Themenheft "Handeln? Handeln!" von Musik und Bildung 6/1998, seine Schilderung zur Entstehung des Themenheftes sowie sein Versuch, Handlungsorientierung und Erfahrungsbezogenheit miteinander in einem "vorläufigen Fazit" zu verschmelzen, lassen sich als einen Abgesang auf theoretische Fundierung handlungsorientierer Didaktik lesen. Ich möchte daher im Folgenden

  • den musikpädagogischen Handlungsbegriff in einen theoretischen Rahmen stellen, der in der Lage ist,
  • den musikpädagogischen Paradigmenwechsel, der sich zur Zeit abspielt, unter Beibehaltung seines "Aussagen-Systems" zu überstehen, um schließlich
  • an einem wichtigen methodischen Beispiel Konsequenzen und Perspektiven aufzuzeigen.

1. Theoretischer Rahmen für die musikpädagogische Handlungsorientierung: die Psychologie musikalischer Tätigkeit

"Die Handlungstheorie gründet auf der Tätigkeitspsychologie der sowjetischen Psychologen (Rubinstein, Leontjew), von denen das Modell dialektischer Widerspiegelung zwischen Umwelt und Mensch stammt", schreibt Rolf Oerter 1985 in der ersten Ausgabe von "Musikpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen" (Oerter 1985, 20). Dies Handbuch erschien mit einem auf Oerter zurückgehenden, programmatisch "handlungstheoretischen Ansatz" (S. 3-11) zeitgleich mit Helga de la Motte-Habers "Handbuch der Musikpsychologie", das - als Gegenentwurf - der Kognitionspsychologie verpflichtet war.

In den 80er Jahren wusste (fast) jeder, dass das von Oerter den Psychologen Leontjew und Rubinstein in den Mund gelegte Modell von Karl Marx stammt und die Grundthese des dialektischen Materialismus darstellt. Offensichtlich waren die westdeutschen Handlungstheoretiker entweder danach bestrebt, den Faden zur Sowjetpsychologie abzuschneiden, oder aber sie mussten sich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass der Begriff "Tätigkeit" dort, wo er nicht en passant sondern als Leitbegriff auftauchte, zur westdeutschen "Kritischen Psychologie" Klaus Holzkamps und zur "Marxistischen Psychologie" der DDR führte. Im Westen konnten Interessierte die Diskussion um "Tätigkeitspsychologie" und "Marxismus" in der Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften "DAS ARGUMENT" mit regelmäßigen Heften zur "Kritischen Psychologie" und von links-kritischer Gegenseite in "Psychologie und Gesellschaft" verfolgen. Beide Zeitschriften erscheinen heute noch mit weit gehend gleich gebliebenen (Gegen-)Positionen.

Da die DDR-Musikpädagogik vollauf damit beschäftigt war, den sozialistischen Realismus zu lehren, das fortschrittliche Erbe bürgerlicher Musik zu bewahren und Lieder parteilich zu singen, war sie musikpsychologisch "blockiert" und entwickelte keine zusammenfassende Darstellung einer tätigkeitspsychologisch fundierten, handlungsorientierten Musikpädagogik. Ich selbst habe anlässlich meiner Tätigkeit an den Bielefelder Schulprojekten 1973-78 Elemente der Tätigkeitspsychologie zunächst entlang der aktuellen Diskussion um "musikalische Kommunikation" auf musikpädagogische Fragen übertragen (Stroh 1979), weil wir - das waren Rudolf Nykrin, Georg Krieger und ich - seinerzeit unter der Leitung Hartmut von Hentigs selbstverständlich "handlungsorientiert" und "erfahrungsbezogen" Musik unterrichteten. Auf die Musikpsychologie übertragen habe ich das System im Zusammenhang mit der Frage, wie "politisch" die neu aufkommende Rock-Didaktik sein (Stroh 1981) und wie das kreative Potential "alternativer Musikpraxis" genutzt werden kann (Stroh 1984).

Im Rahmen der Tätigkeitspsychologie erhält der Begriff Handlung eine dem Begriff Tätigkeit untergeordnete Bedeutung: Handlungen "realisieren" eine Tätigkeit, sind aber nicht Tätigkeit. Diese Unterscheidung bewirkt, dass Begriffe wie Motiv, Bewusstsein, Persönlichkeit und Handlungsziel eine andere Bedeutung als in jenen Handlungstheorien bekommen, die "Tätigkeit" lediglich als eine von "drei Ebenen des Begriffs Handlung" interpretieren (Oerter 1993, 261-262) oder die Hierarchie von Tätigkeit und Handlung benennen, ohne theoretische Konsequenzen zu ziehen (Ribke 1978, 107).

Ich möchte zunächst jene 10 Aussagen der "Psychologie musikalischer Tätigkeit" zusammenstellen, die für eine tätigkeitspsychologische Fundierung musikpädagogischer Handlungsorientierung von Bedeutung sind:

Grundzüge der Psychologie musikalischer Tätigkeit

1. Bezugsbegriff für Musikpädagogik ist nicht "die Musik", sondern der musikalisch tätige Mensch. Nicht aus einer Analyse von Musik, sondern aus einer Analyse der musikalischen Tätigkeit können Handlungsanleitungen deduziert werden.

Diese Aussage hat die Tätigkeitspsychologie mit anderen Handlungstheorien gemeinsam. Die Tätigkeitspsychologie bezieht sich auf Sergej Leonidowitsch Rubinstein, der in seinen "Grundlagen der Allgemeinen Psychologie" davon ausgeht, dass die "Psyche des Menschen nur durch die Tätigkeit des Subjekts erkennbar" ist (Rubinstein 1977, 39) und daher die Psychologie diese Tätigkeit zu analysieren habe. Die meisten handlungstheoretischen Konzepte können sich allerdings nicht zu solch einer klaren Gegenstandsbestimmung durchringen. Sie versuchen vielmehr "Musik" als Gegenstand der Musikpsychologie aufrecht zu erhalten und den "Musikbegriff" neu zu definieren.

2. Musikalische Tätigkeit hat Musik zum Inhalt ("Gegenstand"), sie kann - mit Worten Leontjews - musikalisch motiviert sein.

Die "Gegenständlichkeit" des Handelns ist ebenfalls ein durchgehendes Merkmal aller Handlungstheorien (Oerter 1993, 253-254). Die Verbindung mit dem Motiv ist aber eine Leontjew’sche Besonderheit. Wenn ein Gegenstand die Möglichkeit, eine Tätigkeit anzuregen und zu steuern, angenommen hat, ist er Motiv (Leontjew 1977, 81). Andere, zum Beispiel kommunikative Tätigkeiten, die nicht musikalisch motiviert sind, bei denen Musik aber als Rahmenbedingung eine Rolle spielt, sind keine im strengen Sinne musikalische Tätigkeiten.

3. Jede musikalische Tätigkeit hat ein Motiv und wird durch eine oder mehrere auf Musik gerichtete Handlungen realisiert. Diese Handlungen (und nicht die Tätigkeit) haben Ziele.

Die "Trennung von Ziel und Motiv" (von Handlung und Tätigkeit) vollzieht sich nach Leontjew mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins in der menschlichen "Entwicklung des Psychischen" (Leontjew 1985, 153-161).Die Handlungsziele sind den Handelnden entweder bewusst oder sie können ihnen durch geeignete Maßnahmen bewusst gemacht werden. Die Unterscheidung von Handlung und Tätigkeit sowie die Einführung des Motiv-Begriffs neben dem Begriff des Handlungsziels ist ein Spezifikum der Tätigkeitspsychologie. Diese Unterscheidung hat ganz erhebliche Konsequenzen für den handlungsorientierten Musikunterricht, wie die beiden Beispiele am Ende dieses Abschnittes zeigen sollen.

4. Motive "erscheinen" zwar in den die Tätigkeit realisierenden Handlungen, sie sind aber weder bewusst noch sichtbar oder erfragbar.

Man kann Motive nur detektivisch aus "Indizien" erschließen. Solche Indizien sind die sichtbaren Handlungen. Letztendlich ist der Motiv-Begriff ein Konstrukt. Der tätigkeitspsychologische Motivbegriff ist im Gegensatz zur Auffassung anderer Motivationstheorien niemals ohne Tätigkeit denkbar. Ein abstraktes "Leistungsmotiv" ohne konkrete Tätigkeit (d.h. einen Inhalt) gibt es nicht. Alles, was Helga de la Motte-Haber in Band 4 des Handbuches Musikpädagogik (1987) enzyklopädisch zum Thema Motivation zusammengetragen hat, wäre aus tätigkeitspsychologischer Sicht nochmals inhaltlich neu zu interpretieren.

5. Eine einzelne musikbezogene Handlung (z.B. Singen eines Liedes) kann unterschiedliche Tätigkeiten realisieren und daher auch unterschiedlich motiviert sein. Umgekehrt kann dasselbe Motiv zu ganz unterschiedlichen Handlungen mit unterschiedlichen Zielen führen.

Zwischen Tätigkeitsmotiven und Handlungszielen besteht also kein kausallogischer Zusammenhang. Diese Polyvalenz von Ziel und Motiv macht die Dynamik von Tätigkeit aus. Wenn es diese Vieldeutigkeit nicht gäbe, wäre die Motiv-Suche eine einfache Angelegenheit.

6. Tätigkeit ist Aneignung von Wirklichkeit. Musikalische Tätigkeit ist Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln. Da die die Tätigkeit realisierenden Handlungen die Wirklichkeit verändern, ist diese Aneignung dialektisch verbunden mit einer Vergegenständlichung.

Jede Tätigkeit verändert die Umwelt ("Vergegenständlichung") und den tätigen Menschen ("Aneignung"). Diese philosophische Kernaussage der Tätigkeitpsychologie bedeutet unter anderem: (1) Musikalische Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess; in der Kommunikation verändert das "Senden" einer Nachricht die Realität inclusive Empfänger. (2) Durch die Tätigkeit ändern sich auch die Motive. Dies ist ein Prozess der für Musiklernen ganz fundamental ist. "Die Lust kommt mit dem Musizieren" heißt dieser Vorgang umgangssprachlich. (3) "Musikmachen" als ein prototypischer Vorgang von "Vergegenständlichung" ist mehr als ein Erwerb von musikalischen Fertigkeiten, er ist Teil einer umfassenderen Aneignung von Wirklichkeit (Jugendkultur, Geschichte, soziale Gruppensituation usw.).

7. Bewusstsein ist die Fähigkeit, Handlungsziele zu setzen, Handlungen zu planen und zu überprüfen, inwieweit Ziele erreicht wurden. Dies kann explizit geschehen oder über den Mechanismus der Bedürfnisbefriedigung.

Aus der Dynamik der Tätigkeit (Aussage 6) und der Polyvalenz (Aussage 5) folgt, dass sich Bewusstsein aus der Tätigkeit herausbildet und zugleich die die Tätigkeit realisierenden Handlungen steuert. Für Leontjew sind bewusste Handlungen typisch menschlich (Leontjew 1985, 153-161). Das vielzitierte Beispiel Karl Marx’ vom Unterschied zwischen der Biene, die eine wunderschöne Wabe baut, und dem Architekten, der Schönheit bewusst plant, ist auf Musik übertragbar. Während eine Nachtigall die Ziele ihres Schöngesanges nicht frei wählen oder verändern kann, kann eine Opernsängerin ihre Singhandlungen gezielt einsetzen und Handlungsstrategien bewusst gestalten. - Dieser Gedankengang ist nicht unumstritten. Zum einen gibt es Tiere, die offensichtlich Handlungsziele verändern können. Zum andern kennt der graue Opernalltag (pars pro toto) viele Fälle, in denen ein Mensch eher tierisch als typisch menschlich tätig sein muss, d.h. keinerlei Verfügungsgewalt über seine Handlungsziele hat und sich im Laufe des Lebens auch gar nicht mehr vorstellen kann, wie so etwas sein könnte.

8. Aus Bedürfnissen heraus können Tätigkeitsmotive entwickelt werden, die dann zu Handlungen führen. Wie die Motive, so können sich auch Bedürfnisse durch die Tätigkeit (die dann als Bedürfnisbefriedigung interpretiert werden kann) weiterentwickeln.

Zwischen Handlungszielen und den Bedürfnissen, aus denen die Tätigkeitsmotive entstanden sind, besteht kein kaussallogischer Zusammenhang. Musikalische Motive können zu nicht-musikalischen Handlungen führen und musikalische Handlungen können nicht-musikalische Motive realisieren. Am bekanntesten ist der letzte Fall. Er liegt immer dann vor, wenn aufgrund musikfremder Motive musiziert wird: sei’s aus Gründen der puren Geselligkeit, des "Geldmotivs" oder aus selbsttherapeutischen Gründen.

Dass Bedürfnisse sich durch die Befriedigung von Bedürfnissen weiter entwickeln, dass Befriedigung also keine Beseitigung, sondern eine Veränderung von Bedürfnissen ist, gehört heute zum Alltagswissen. Kein Mitglied unserer Konsumspiralen-Gesellschaft wird leugnen, dass Bedürfnisbefriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - nicht nur aufgrund von Werbung und Manipulation, sondern auch wegen der dynamischen Dialektik menschlicher Tätigkeit. Die Karl Marx’sche Aussage von der Bedürfnisspirale war nicht moralisch oder kritisch formuliert, sie war eine nackte Feststellung. Ihre Ursache übrigens sieht Karl Marx im "Wesen des Kapitals", das sich ständig vermehren muss, wenn der Kapitalismus nicht zusammenbrechen soll. Auch diese Aussage gilt heute in allen ökonomischen Theorien als Gemeinplatz.

9. Musiklernen ist die Herausbildung der Fähigkeit, selbstbestimmt und selbstbewusst musikalisch tätig sein zu können. Musikalität ist die Fähigkeit, erfolgreich musikalisch tätig zu sein.

"Erfolgreich" bezieht sich stets auf die individuellen und sozialen Bedürfnisse des Einzelnen. Zu "Fähigkeit" gehört also nicht nur, dass ein Individuum durch eine Handlung ein Handlungsziel erreichen, sondern auch, dass es aus seinen Motiven heraus die geeigneten Handlungsziele überhaupt entwickeln kann. Dieser zweite Aspekt ist gerade bei musikalischen Tätigkeiten nicht einfach und führt zu mehr Problemen als der erste. Mit der Frage, wie musikalische Ziele - durch Fingerübungen, durch mentales Training, durch Notenanalyse etc. - handelnd erreicht werden können, beschäftigen sich 90% der Musikpädagogik. Die Frage, welche musikalischen Zielsetzungen aber gewisse Motive zu realisieren imstande sind, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Daher wissen Menschen, die musikalisch motiviert sind, sehr oft nicht, was sie konkret tun sollen: ein Instrument erlernen, eine CD kaufen, sich mit einem Musiker befreunden, eine Reise nach Salzburg unternehmen usw. Auch mit ihrem Musikalitätskonzept geht die Tätigkeitpsychologie weit über andere Handlungstheorien hinaus. Letztere klammern das Musikalitätsproblem entweder ganz aus oder übernehmen Musikalitätstheorien anderer Provenienz.

10. Musikalische Bildung ist die Entwicklung der Persönlichkeit durch musikalische Tätigkeit. Die Bedeutung von Musikunterricht im Rahmen einer staatlichen Schule ist im Wesentlichen musikalische Bildung.

Es überrascht vielleicht, dass die Tätigkeitpsychologie überhaupt einen "Bildungsbegriff" hat. Dies liegt daran, dass sich durch Tätigkeit (und nur durch Tätigkeit!) die Persönlichkeit des Menschen "bildet". Das tätigkeitspsychologische Persönlichkeitskonzept spielte in der DDR mit dem Leitziel der "allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" eine derart große Rolle, dass westdeutsche Lerntheorien in dieser Hinsicht sehr vorsichtig gewesen sind. Dabei ist der resultierende Bildungsbegriff gemessen an Äußerungen der westlichen Bundesschulmusikwochen sehr profan. Von "handlungstheoretisch fundierter Persönlichkeitspsychologie", wie sie Christian Harnischmacher vorgeschlagen hat (Harnischmacher 1994), unterscheidet sich das tätigkeitspsychologische Konzept durch relativ globale und eher philosophische Herangehensweise.

Eine wichtige Konsequenz im Hinblick auf Konzepte, die das Musikmachen zu verabsolutieren scheinen, ist, dass Musiklernen im Sinne der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten bei diesem Bildungsbegriff nicht vorrangig ist. Zwar lässt sich bei dieserart musikalischer Bildung - gottlob! - die Herausbildung von Fähigkeiten und somit "Musikalität" nicht vermeiden. Das Ziel von Unterricht ist jedoch die Persönlichkeits- und nicht die Fertigkeitsentwicklung.

Wie Aussage 3 die theoretische Differenz zwischen einer tätigkeitspsychologisch und allen anders fundierten Handlungsorientierungen darstellt, demonstriere ich an zwei Fallbeispielen:

Fall 1: In einer Musik-AG wird geprobt. Alle SchülerInnen haben zusammen mit der Lehrkraft das Ziel, ein vorgegebenes Stück einzustudieren. Die Lehrkraft muss immer wieder Entscheidungen treffen: Breche ich an einer falsch gespielten Stelle ab und übe nochmals? Welche Rolle soll in meinen Ermahnungen "bei der Sache zu bleiben" der Hinweis auf die Aufführung vor der Öffentlichkeit spielen? "Motiviere" ich oder mache ich Angst, wenn ich auf die Gefahr einer Blamage hinweise? Wie soll ich auf sachfremde Gespräche der SchülerInnen am Rande der Probe reagieren? Soll ich ein "Arbeitsklima" schaffen oder eher das einer schönen Freizeitbeschäftigung?

Zur Beantwortung dieser Fragen müsste die Lehrkraft eine Tätigkeitsanalyse der Probenarbeit durchführen, die folgende Aspekte beachtet: Alle vollführen dieselben Handlungen bei gleichen Zielsetzungen, es gibt aber unterschiedliche Motive. Die einen sind musikalisch motiviert und wollen ein gut klingendes Stück bei einer öffentlichen Präsentation hervorbringen. Die andern sind sozial motiviert und wollen eine angenehme Zeit bei der Proben erleben. Trotz gleichen Handlungen finden also verschiedene Tätigkeiten statt. Die Probe befriedigt zweierlei Bedürfnis, das nach erfolgreicher Selbstdarstellung auf einer Bühne und das nach sozial angenehmer und sinnvoll erfüllter Freizeit in der probenden Gruppe.

Das "pädagogische Geschick" der Lehrkraft besteht bekanntlich darin, zwischen diesen unterschiedlichen Bedürfnissen, Motiven und Tätigkeiten in einer gemeinschaftlichen Tätigkeit (der "Probe") zu vermitteln, falls die Lehrkraft nicht von vornherein nur eine Art von Bedürfnis, Motiv und Tätigkeit zulassen will. Die pädagogische "Vermittlung" geschieht meist intuitiv, manchmal mit, manchmal ohne Erfolg. Eine Tätigkeitsanalyse hilft, hier mit vollem Bewusstsein vorzugehen, Konfliktsituationen frühzeitig zu erkennen und zu deregulieren. Das konkrete Procedere habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt.

Fall 2: Ein Musiklehrer ist schülerorientiert und fragt, ob die SchülerInnen in der nächsten Stunde ein bestimmtes Musikstück lieber auf Instrumenten spielen oder zu einem Playback des Stückes tanzen wollen. Allerdings weiß er, dass die Antworten auf derartige Direktbefragungen nicht wörtlich genommen werden dürfen, sondern interpretiert werden müssen. Wie aber soll er das Befragungsergebnis interpretieren?

Der Musiklehrer fragt nach Handlungsalternativen. Um die Schülerangaben einschätzen zu können, müsste er die Motive der SchülerInnen herausbekommen und sodann pädagogisch entscheiden, wie er mit unterschiedlichen Motiv "taktisch geschickt" umgeht. Der Lehrer wird sich also einen Katalog möglicher Motive, die zum Plädoyer für "auf Instrumenten spielen!" führen, aufschreiben: (1) starkes Bedürfnis, auf Instrumenten zu spielen, (2) generelle Unlust sich körperlich im Musikunterricht zu betätigen, (3) Angst vor "Anmache" durch das andere Geschlecht, (4) Wunsch, die geliebte Freizeitbeschäftigung Tanzen nicht pädagogisiert zu bekommen usw. Zwischen Handlungszielen und Motiven gibt es (Aussage 5) keinen kausallogischen Zusammenhang. Daher müsste der Lehrer zur Motiv-Bestimmung weitere Informationen einholen. Dies wird er in der Regel nicht durch eine weitere Befragung, sondern durch Beobachtung der SchülerInnen tun. Solche Beobachtungen führt ein Musiklehrer, sofern er die SchülerInnen einigermaßen gut und lange kennt, laufend durch. Er wird also, aus seiner "Kenntnis der SchülerInnen heraus" das Befragungsergebnis interpretieren.

Die Kombination von "objektiver" empirischer Befragung und "subjektiver" Interpretation der Ergebnisse ist aus tätigkeitspsychologischer Sicht notwendig. Das Verfahren ist aber derart aufwendig, dass üblicherweise gerade im handlungsorientierten Unterricht das Verfahren des "Probehandelns" schneller und ebenso zuverlässig ist. Danach setzt der Musiklehrer ohne zu fragen selbst gewisse Handlungsziele und beobachtet, ob und wie SchülerInnen die entsprechenden Handlungen gestalten und zur Realisierung von Tätigkeiten und Motiven bzw. zur Befriedigung von Bedürfnissen einsetzen. Wenn die Gesamttätigkeit offen und selbstreguliert angelegt ist, werden die Antworten auf die Frage, die durch die erwähnte empirische Befragung zutage hätten gefördert werden sollen, von selbst deutlich werden.

2. "Hören und Verstehen" im Strudel des musikpädagogischen Paradigmenwechsels

Das Modell der musikalischen Kommunikation hatte eine doppelte Funktion. Als Modell vom "Wesen der Musik", als Beschreibung dessen, worauf es bei Musik "wirklich" ankommt, war es ein gegen den überzogenen und verabsolutierten Kunstwerk- und Kunstwerkschöpfer-Begriff gerichtetes musikwissenschaftliches Programm. Als Modell von "idealen Prozessen" im Musikunterricht, als Beschreibung dessen, woran die Ziele des Musikunterricht ausgerichtet sein sollten, war es ein musikpädagogisches Programm. Beide Programme ergänzen sich und entstammen demselben aufklärerisch-kritischen Geiste, auch wenn man sie logisch trennen kann und auch wenn sie nicht immer gleichzeitig auftraten.

Das Kommunikationsmodell stellte den Kunstwerkbegriff als eine "Verdinglichung" oder "Fetischisierung" von musikalischer Kommunikation dar, die sich mit Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit entwickelt habe. Mit zunehmender Kommerzialisierung der Kunstmusik habe sich das derart verdinglichte Modell dann dem des ökonomischen Modells von der Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren bis zur Unkenntlichkeit angenähert. In letzter Konsequenz wurde der Kunstwerkcharakter als eine besonders blendende und schöne Ausprägung des Warencharakters interpretiert (Stroh 1978).

Obgleich das Kommunikationsmodell eine Kritik des (fetischisierten) Kunstwerks darstellen sollte, hat es die für Kunstwerke konstitutive Eigenschaft von Musik, eine "Botschaft" zu enthalten, die nicht nur "gehört", sondern auch "verstanden" werden kann, nicht zerstört. Im Gegenteil. Gerade Theodor W. Adorno, der die Fetischcharakter-These von Karl Marx auf die Musik übertragen hatte, hat emphatisch das "Verstehen von Musik" propagiert und dabei nicht nur den Musikbetrieb, sondern auch die musikpädagogische Musizierpraxis als Hindernis von Musikverstehen angeprangert (Gramer 1976, 31-43):

Unabdingbar aber erscheint die Forderung, dass wahre musikalische Pädagogik terminiere im Verständnis dessen, was in der Kunstmusik ihrer Epoche verbindlich sich zuträgt (Adorno 1957, 119).

Nun gibt es durchaus unterschiedliche Modelle musikalischer Kommunikation. Die Vorstellung von Sender-Botschaft-Empfänger und von der Struktur der Botschaft als einer dialektischen Einheit der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Dimension entsprach noch weit gehend der vertrauten musikphilosophischen Kategorienbildung von Gehalt und Gestalt oder Inhalt und Form. Das Modell konnte sehr "rezeptiv" interpretiert werden, wobei dem Musikunterricht im Sinne des Adorno-Zitats dann die Aufgabe zufiel, eine durch den Komponisten und seine Zeit festgelegte und im Kunstwerk chiffrierte "Bedeutung" (d.h. "das, was sich im Kunstwerk verbindlich zuträgt") zu dechiffrieren. Dies Modell widersprach weder der Hermeneutik noch einer Schülerorientierung, für die lediglich Adornos Vorstellung, dass der Musiklehrer vorab feststellen könne, in welchen Kunstwerken sich etwas "verbindlich zuträgt", fallen gelassen wurde. So wurde eben auch dann "Bedeutung" dechiffriert, wenn diese möglicherweise "unverbindlich" war, also in Werbespots, Filmmusik, Popularmusik, außereuropäischer Musik.

Die musikpädagogische Handlungsorientierung hat dies relativ fest gefügte Modell und Weltbild erheblich dynamisiert. Der Kommunikationsakt wurde als "Handlung", als ein aktiver Vorgang, als eine Interaktion, als ein sozialer Prozess interpretiert. Dadurch geriet die traditionelle Vorstellung von "Verstehen" ins Wanken. 1975 bei Wilfried Ribke scheint die "Handlungsorientierung" nicht nur die Methode zu betreffen (Rauhe/Reinecke/Ribke 1975, 169-195), sondern auch die Inhalte (ab S. 196). In diesem Augenblick kippt der traditionelle Verstehens-Begriff. Musikstücke sollen nicht mehr "betrachtet", sondern handelnd "nachvollzogen", nicht mehr "analysiert", sondern "erfahren" werden (S. 197). Was ist das für ein "Verstehen", wenn die SchülerInnen handelnd mit Musikstücken umgehen? Geht dieser Begriff noch davon aus, dass im Musikstück eine Botschaft enthalten ist, gibt es noch die Vorstellung, dass SchülerInnen ein Musikstück "richtig" oder "falsch" verstehen können, oder genügen die guten, positiven und mitteilbaren Erfahrungen beim handelnden Umgang?

Das Problem wurde schnell erkannt und auch in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutiert. Walter Heimann stellt 1984 auf einer Bundesschulmusikwoche fest, dass "musikalisches Handeln" nur auf den ersten Blick problemlos sei. "Zum Problem wird es im Folgenden dadurch, dass es durch Werturteile einen subjektiven Sinn erhält". Heimann stellt der (alten) objektiven die (neue) subjektive "Wertlehre" gegenüber, "für die Musik ..., kurz gesagt, die Summe dessen ist, was Menschen davon halten". "Für den Lehrer hat die subjektive Wertlehre allerdings ein gewaltiges Problem geschaffen. Denn anders als die objektive Wertlehre beantwortet und ‘verantwortet’ sie die Sinnfrage des musikalischen Handelns nicht" (Heimann 1985, 236 und 241). Wilfried Fischer charakterisiert Handlungsorientierung ebenfalls dadurch, dass sich diesem Konzept zufolge "Verstehen nicht mehr nur am Werk, sondern auch an der Rezeption orientiert" habe (Fischer 1986, 318). Diesen Verstehens-Begriff führt Fischer auf die Entdeckung der Jugendkulturen durch die Musikpädagogik, prototypisch auf Hermann Rauhes "Schlager und Beat im Unterricht" von 1970 zurück.

Ein Paradigmenwechsel stand ins Haus. Unter "Paradigma" versteht man heute jenen unhinterfragten und auch grundsätzlich nicht hinterfragbaren Grundkonsens einer Scientific Community. Das wichtigste Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaft ist, dass der Mensch zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt unterscheiden kann. Als ähnlich fundamentales und damit verwandtes musikpädagogisches Paradigma kann man den herkömmlichen Verstehensbegriff ansehen. Danach bedeutet Musik nicht einfach "alles", sondern etwas ganz Bestimmtes. Und dies Bestimmte können Menschen verstehen oder missverstehen. MusikerInnen sind professionell mit der Herstellung von musikalischen Bedeutungen beschäftigt, Nicht-MusikerInnen dagegen mit dem Versuch zu verstehen. Rolf Großmann hat 1991 in einer umfangreichen Arbeit alle seinerzeit verbreiteten Theorien musikalischer Kommunikationshandlungen zusammengefasst (Großmann 1991) und gezeigt, bis zu welchem Grad das alte musikpädagogische Paradigma strapazierfähig ist.

Inzwischen, 1999, ist das alte Paradigma weit gehend gefallen:

  1. MusikpädagogInnen erahnen dies aufgrund einer freud- oder leidvollen Praxis,
  2. Theoretiker diskutieren das Phänomen als "radikalen Konstruktivismus" und
  3. DJ’s, Scratcher, Sampler, Filmmusiker, Werbespotler betätigen sich als Leichenfledderer.

Botschaften von Musik, so das neue Paradigma, entstehen im Umgang mit Musik, sie werden von den HörerInnen "konstruiert", sie sind gar nicht in der Musik enthalten. Freilich bemühen sich KomponistInnen von Kunstwerken immer noch um das Chiffrieren von Botschaften und die meisten HörerInnen "konstruieren" sich ja auch noch das, was die KomponistInnen gewollt haben, vor allem dann, wenn der Rezeptionsrahmen klar umrissen ist. Indessen scheint diese Form musikalischer Kommunikation rapide abzunehmen. Ob eine sinfonische Geste im Werbespot die Botschaft "potenzstärkendes Auto" oder ein Didgeridoo-Klang im Technokeller die Botschaft "Xtasy" verbreitet, das hat kein Beethoven und kein Aborigines mehr in der Hand.

Ad (1). Nicht nur die im deutschsprachigen Raum auflagenstärkste Musikzeitschrift "Praxis des Musikunterichts" sondern auch die konzeptionellen Windungen von "Musik und Bildung" oder "Musik und Unterricht" spiegeln wider, dass die herkömmlichen Ziele des "Verstehens" weit gehend dem Konzept eines fantasievollen und lustbringenden Umgangs mit Musikstücken gewichen ist. Alles geschieht unter dem Vorwand der Handlungsorientierung. Dabei wird "Spaß haben" oft als ein Ziel bezeichnet. Dies ist ein logischer und terminologischer Irrtum, aber ein sehr bezeichnender Irrtum. "Spaß" kann kein Handlungsziel sein, sondern ist eine positive Begleiterscheinung und ein Erfolgskriterium. Wenn Schüler beim Zertrümmern eines Musikinstruments "Spaß" haben, dann hört ja der Spaß auf. Jedes Handlungsziel muss wie auch die dahinter stehende Tätigkeit einen Inhalt haben und Spaß ist kein Inhalt. Wenn "Spaß" zum Ziel erhoben wird, so kommt in diesem logischen Irrtum eine neuartige Beziehung von SchülerInnen zu Musik zum Ausdruck. Wenn sie nämlich das, was Musik für sie bedeutet, nicht mehr "verstehend" der Musik entnehmen, sondern selbst(bewusst) selbst herstellen ("konstruieren"), so kann es ihnen scheinen, als ob der Spaß, den sie hierbei empfinden, Inhalt ihrer Tätigkeit und Ziel ihrer Handlung ist.

Ad (2). Der "radikale Konstruktivismus" verabsolutiert die aktuellen Beobachtungen über menschliche Tätigkeiten zu einem philosophischen und infolgedessen auch philologischen System. Er liefert allen, die den Paradigmenwechsel, der sich im Schulalltag abspielt, neurophysiologisch bis onthologisch abgesichert haben möchten, die notwendigen Begründungen und den notwendigen Trost. In der Praxis etwa der "systemisch-konstruktivistischen Pädagogik" (Kersten 1997) werden handlungsorientierte Modelle mit einer starken Akzentuierung der Dialektik von Inhalts- und Beziehungsaspekt dargeboten. Dass der musikbezogene Konstruktivismus keineswegs an Handlungstheorien gebunden, sondern auch auf der Basis der der Kognitionspsychologie funktionieren kann, hat Christoph Louven mit einer experimentellen Untersuchung zum Problem von "Musik Hören und Verstehen" gezeigt (Louven 1998). Christian Harnischmacher hat die Theorie des radikalen Konstruktivismus explizit auf Musiklernen übertragen, dabei Handlungstheorien nur indirekt einbezogen und dafür plädiert, im Musikunterricht möglichst von Schallereignissen auszugehen, bei denen wie in Urzeiten der Auditiven Wahrnehmungserziehung eine "Bedeutungszuweisung bei an sich bedeutungsfreien neuronalen Prozessen gelingen" könne (Harnischmacher 1997, 86). Immerhin zeigt die Diskussion um den radikalen Konstruktivismus, dass auffällige Erscheinungen der gesellschaftlichen Praxis, auf die schülerfreundliche MusiklehrerInnen längst unbewusst reagiert haben, auch philosophisch diskussionswert und damit sicherlich kein bloßer Zufall oder Einbildung sind.

Ad (3). Die auffallendsten und musikalisch wohl interessantesten Erscheinungen des Paradigmenwechsels spielen sich im aktuellen Musikleben ab. Es gibt kaum mehr einen Sektor der Musikproduktion, der nicht vom Zusammenbruch der herkömmlichen Vorstellung von "Hören und Verstehen" ergriffen ist. Ob ein DJ ein Musikstück einfach rückwärts abspielt, ob eine Blech-Band sich auf John Cage beruft, ob nach Belieben quer durch den CD-Plattenmarkt gesampelt wird, ob MusikerInnen aus beliebigen musikalischen Weltregionen mit anderen MusikerInnen vernetzt und fusioniert werden, ob E-Musikkomponisten ganze Sinfonien als Collage und Zitat anlegen, ob für Werbespots und Videos nur noch die GEMA Grenzen musikalischer Bricollagen setzt, ob klassische Musik für den Gebrauch beim Zahnarzt dynamisch komprimiert oder ein gregorianischer Choral für den Einsatz in einem Lederjackengeschäft durch einen Flanger geschickt wird... stets beobachten wir, dass und wie aktiv tätige Menschen Bedeutungen von Musik "konstruieren". Wie ist solch eine pietätlos neu-konstruierte Musik zu "verstehen"?

Der Basler Philosoph Hans Saner hat 1997 in einem Festvortrag als Außenstehender über "Die Musikpädagogik in der Spannung von moderner Einheit und postmoderner Pluralität am Ende des 20. Jahrhunderts" gesprochen und gesagt:

Das Fazit all dessen ist, dass heute von einer identitätsstiftenden Funktion der Musik nicht mehr die Rede sein kann. Aus zwei Gründen: Erstens gibt es gar keine Identität der Musik selber. ... Zweitens ist der Musiker heute, wie alle Künstler, nicht eine sesshafte, sondern eine nomadische Existenz, weil er von Musik zu Musik geht, die sich alle erst im Musizieren definieren. ... aus dem nomadierenden Interesse an der Differenz aber erwächst ihm eine neue Fähigkeit zu: auf das, was ihm noch fremd ist, zuzugehen, um im Kontakt mit ihm die Differenz auch wahrzunehmen und zu erfahren (Saner 1997, 276-277).

In diesem Gedankenfragment scheint die "Multikulturalität" als Perspektive dessen, was von wertekonservativer Seite mit Sinnkrise und Identitätsverlust beschrieben wird. Jugend-Theoretiker sprechen von Patchwork-Culture und Bricollage. Musikalisch erscheint die aktuelle Situation nach dem Paradigmenwechsel in der Tat wie ein riesiger Supermarkt von Beliebigkeiten, aber auch von Kreativität - stets an der Grenze des Nonsense. Die Philosophen des radikalen Konstruktivismus haben diesen Supermarkt und das aus ihm ertönende musikalische Weltkonzert der Unverbindlichkeiten nicht verursacht, sondern allenfalls als Anlass ihrer Theoriebildung genommen. Und die Handlungsorientierung in der Musikpädagogik ist mit Sicherheit auch nicht an der geschilderten Situation des Musikunterrichts Schuld. Allerdings ist kaum zu leugnen, dass sich unter ihrem Deckmantel der Paradigmenwechsel klammheimlich im Klassenzimmer durchsetzen konnte.

Psychologisch betrachtet herrscht in diesem musikalischen Supermarkt der Beliebigkeiten jedoch die Logik einer emsigen und kreativen musikalischen Tätigkeit. Während Handlungstheorien, die sich um "Hören und Verstehen" bzw. um musikalische Kommunikation bemühen, angesichts des Paradigmenwechsel vor die Alternative gestellt sind, entweder neue Leitziele zu formulieren oder aber den Begriff des Verstehens "radikal-konstruktivistisch" neu zu definieren, haben Handlungstheorien, die tätigkeitspsychologisch begründet sind, keine Probleme mit dem Paradigmenwechsel. Die Kategorien, die im "Aussagen-System" des vorigen Abschnitts dargelegt worden sind, sind weiterhin tragfähig. Das hat folgenden Grund:

Was an "Verständnis" im Kopf eines Menschen physiologisch oder psychologisch vorgeht, ist für die tätigkeitspsychologische Handlungsorientierung nur insofern interessant, als dieser Mensch handelt und tätig ist. Wie bereits erwähnt, geht die Tätigkeitpsychologie davon aus, dass die "Psyche des Menschen nur durch die Tätigkeit des Subjekts erkennbar" ist (Rubinstein 1977, 39). Mit Sicherheit gilt diese Aussage für die Praxis des Musikunterrichts. Was nützt tiefes Musikverstehen eines Schülers, wenn niemand etwas davon merken kann? "Verstehen" kann tätigkeitspsychologisch nur bedeuten, dass ein Mensch in musikalischer Tätigkeit musikalische Motive entwickelt, Handlungsziele setzt, Handlungen ausführt und dabei mit seiner Umwelt interagiert. Die musikalisch Tätigen tun dies alles im Idealfall selbstbestimmt und selbstbewusst (Aussage 10). Nennt man diesen Prozess "Konstruktion von Bedeutung", so ist klar, wo die Grenzen des tätigkeitspsychologischen "Konstruktivismus" liegen: Motive, Handlungsmöglichkeiten und -ziele und das Bewusstsein der Handelnden leiten die Bedeutungs-Konstruktion. Alle drei Faktoren kann das Individuum nicht alleine "im Kampf aller gegen alle", sondern nur als soziales Wesen beeinflussen: Die Motive entwickeln sich aus den Bedürfnissen (die sich aus individuellen und gesellschaftlichen zusammensetzen) sowie der "Aneignung von Realität", einer weit gehend vernetzten und sozialen Beziehungs-Realität. Dass Motive im Sinne der Tätigkeitspsychologie keine Privatsache, sondern gesellschaftlich bedingt sind, hat Anke Westphal in einer Untersuchung zur geschlechtsspezifischen Motivation von MusikschulschülerInnen gezeigt (Westphal 1996). Die Handlungsmöglichkeiten und -ziele können nur in sehr begrenztem Ausmaß frei gewählt werden, in der Schule sind sie durch die Institutionen, die Klasse, den Lehrer, die zur Verfügung stehenden Mittel etc. bestimmt. Das Bewusstsein - daran hält die Tätigkeitpsychologie fest - ist letztendlich (d.h. "in letzter Instanz") durch das gesellschaftliche Sein bestimmt.

3. Methodische Konsequenzen und Perspektiven am Beispiel der szenischen Interpretation von Musik

Die Sache ist eigentlich ganz einfach: Tätigkeitspsychologisch fundierte Handlungsorientierung bedeutet, daß alle von der MusiklehrerIn und von den SchülerInnen ausgeführten Handlungen ein Musiklernen durch "musikalische Tätigkeit" darstellen. Die entscheidende Frage ist jedoch: Welche Methoden sind geeignet, ein Musiklernen im Sinne musikalischer Tätigkeit in Gang zu setzen und zu garantieren? Wie kann tätigkeitspsychologisch fundierte Handlungsorientierung konkret inszeniert werden?

Als Antwort möchte ich das Konzept der szenischen Interpretation von Musik, das zunächst als eine Umsetzung des "erfahrungsbezogenen Unterricht" von Ingo Scheller (Scheller 1981) entwickelt worden ist, unter tätigkeitspsychologischen Kriterien von Handlungsorientierung analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass dies Konzept ein breites Methodenrepertoire für tätigkeitspsychologisch fundierte Handlungsorientierung bereitsstellt.

Der Begriff "Erfahrung" wurde von Anfang an mit Handlungsorientierung in Verbindung gebracht. Wilfried Ribke stellt, wie bereits zitiert, 1975 die Tätigkeit "Musik erfahren" der Tätigkeit "Musik analysieren" gegenüber. Rolf Großmann hebt 1991 den Aspekt der "Einfühlung", der auch im erfahrungsbezogenen Lernen wichtig ist, hervor. Hans Bäßler spricht 1998 von "handelnden Erfahrungen", sagt, dass "Handeln immer auf Erfahrungen abzielt", und wünscht vom Musikunterricht, dass er "Musik handelnd erfahrbar machen" möge (Bäßler 1998, 4-6). Ins Deutsche übersetzt: "Erfahrungen" sind Ergebnisse von Handlungen (allerdings keine Handlungsziele), und im Musikunterricht sollten die SchülerInnen musikalische Erfahrungen auch im handelnden Umgang mit komponierter Musik machen. Offensichtlich ist Handlungsorientierung hier eine methodische Realisierung von Erfahrungslernen. "Handeln, um (Lern-)Erfahrungen zu machen", so stand es in der Tat bereits in Rudolf Nykrins "Erfahrungserschließender Musikerziehung" (Nykrin 1978), die das Konzept der Bielefelder Laborschule, d.h. Hartmut von Hentigs "Schule als Erfahrungsraum" (von Hentig 1973), musikpädagogisch aufgearbeitet hat.

Nun besagt die Tatsache, dass häufig "handelnder Unterricht" als eine Form von Erfahrungslernen erkannt wurde, noch nicht, dass jedes Erfahrungslernen - also beispielsweise das szenische Interpretieren von Musik - handlungsorientiert, geschweigedenn tätigkeitspsychologisch fundiert ist. Ich werde daher im Folgenden explizit zeigen, dass szenische Interpretation von Musik als ein tätigkeitspsychologisch fundiertes Handlungskonzept betrachtet werden kann. Ein Konzept übrigens, das nach dem musikpädagogischen Paradigmenwechsel noch Bestand hat.

Das Konzept des erfahrungsbezogenen Unterrichts geht davon aus, dass SchülerInnen durch Erfahrungen lernen und sogar nur durch Erfahrungen lernen. Alles, was im Unterricht passiert und keine Erfahrung wird, wird auch nicht gelernt. Erfahrungen entstehen dabei durch verarbeitete Erlebnisse und Erlebnisse sind die Erinnerungsspuren von Handlungen. Die Aufgabe der LehrerIn ist nicht, Erfahrungen zu vermitteln, sondern Erfahrungen zu ermöglichen. Die LehrerIn tut alles, damit die SchülerInnen Erlebnisse haben und diese zu Erfahrungen verarbeiten können. Bei der szenischen Interpretation von Musik ermöglichen die einzelnen Methoden - im Gegensatz zu ähnlich aussehenden, handelnden Methoden wie "Musikmachen" oder "Bewegen zu Musik" - beides zugleich: Erlebnisse zu haben und Erfahrungen zu machen. Ein typisches Beispiel sind gezielte Haltungsübungen zu und mit Musik. Das Erlebnis, eine Haltung zu Musik einzunehmen, zu verändern und zu spielen, wird im selben Verfahren szenisch kommentiert und interpretiert durch Haltungsveränderungen, Haltungsergänzungen und Musikveränderungen.

Wenn eine SchülerIn die nach ihrer Auffassung zu einem Musikstück passende Haltung einnehmen oder zu einem vorgegebenen Bild eine passende Musik finden soll, so wird sie zielgerichtete Handlungen durchführen. Wenn andere SchülerInnen die Musik, die Haltung und das Bild beobachten und Vorschläge für alternative Haltungen einbringen sollen - zum Beispiels als "Hilfs-Ich" aussprechen, was ihrer Meinung nach die erste SchülerIn denkt oder fühlt -, so werden auch sie zielgerichtete Handlungen durchführen. Sofort entsteht ein differenziertes Handlungsgeflecht, das sich zu einer musikalisch-szenischen Tätigkeit eines Kollektivs zusammensetzt. Hierbei werden individuelle Erlebnisse zu gemeinsamen Erfahrungen verarbeitet.

Diese Arbeit an Haltungen zu Musik bezweckt die "Einfühlung" in andere Menschen, oft in Rollen (eines Musiktheaterstücks), in fremde Situationen, in soziale Beziehungen, in alle Arten und Formen von Musik. Die Arbeit an Haltungen, an äußeren und inneren Haltungen ist ein psychologisch sehr effizientes und schülerfreundliches Verfahren von "Einfühlung". Sie ist ein Verfahren, das offen, diskutierbar, bewusst handhabbar ist. In den Handlungen, die der "Einfühlung" dienen, werden den SchülerInnen Motive bewusst, die andere Menschen haben oder haben können. Sie übernehmen im Sinne des "Probehandelns" solche Motive aus einer Rollendistanz heraus und erfahren, was es für die "Aneignung von Wirklichkeit" bedeutet, derart motiviert tätig zu sein. Hier ein Beispiel:

Die szenische Interpretation der "West Side Story" erfordert und befördert eine "Einfühlung" in die soziale Situation an der New Yorker West Side um 1957, in männlich dominierte Jugendbanden, in um ihr Daseinsrecht kämpfende "Ausländer", in Jugendliche, die Angst vor Gewalttätigkeit haben und Gewalt dennoch herbeiführen, in selbstbewusste Mädchen-Subkulturen, in Freundinnen und Freunde, in Liebende, in "Aussteiger" usw. Sie erfordert auch eine Einfühlung in die subkulturelle Bedeutung von jazzorientierter Musik, in heimatlich getönte Popmusik, in identitätstiftendes Singen, in spannungslösendes oder ritualisiertes Tanzen, in musikalische Selbstdarstellung und Gruppenbildung usw. Man könnte diese "Einfühlung" im übertragenen Sinn mit Adornos Worten als "Verständnis dafür, was in der Musik Bernsteins sich zuträgt" rechtfertigen, wobei ein wichtiges Merkmal der Musik eine gewisse Offenheit, Polyvalenz und Vielschichtigkeit ist. Dadurch gibt es bereits aus musikalischen Gründen keine "richtige" und "falsche" Einfühlung. Aus Gründen der Handlungsorientierung noch viel weniger.

Derart eingefühlt spielen die SchülerInnen in der szenischen Interpretation gewisse "Kernszenen" und dramatische Entscheidungsprozesse mithilfe der Musik durch. Wenn im Verlauf der Einfühlung der Aspekte Aneignung von Wirklichkeit der musikalischen Tätigkeit dominiert, so tritt jetzt der Aspekt der Vergegenständlichung in den Vordergrund. Dabei werden in aller Regel im Schutze einer Rolle Fantasien oder Ängste, Stereotypisches oder Utopisches frei gesetzt. Dies ist zunächst ungewöhnlich und (für die LehrerIn) beängstigend. Bei Lehrerfortbildungen, in denen ich das Konzept der szenischen Interpretation ausprobiere, werde ich regelmäßig an diesem Punkt mit sehr ernsthaften Fragen konfrontiert: Darf ich solche Fantasien freisetzen? Was kann passieren, wenn diese Fantasien freigesetzt sind? Wie kann ich mit freigesetzten Fantasien umgehen?

Die Antworten liegt auf drei Ebenen. Zunächst kann festgestellt werden, dass es für gewöhnlich an der Schule nicht zugelassen ist, sozial unerwünschte Fantasien (über Gewalt, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit) zu haben oder zu äußern. Die Bearbeitung solcher Fantasien geschieht in ritualisierter Form, die die Fantasieproduktion als einen unterbewussten Prozess kaum tangiert. Ein typisches Beispiel ist die übliche didaktische Interpretation der "West Side Story", die beispielsweise am Ende des ersten Aktes die SchülerInnen mit ihren durch die Tragik des Geschehens und durch die Kampfmusik aufgewühlten Fantasien alleine lässt. Entweder wird der Inhalt des Musicals überhaupt nicht aufgearbeitet und nur darüber diskutiert, wie dieser Inhalt musikalisch und bühnenwirksam dargestellt ist. Oder der Inhalt wird "von außen" betrachtet und unter Fragestellungen "Wie ist es zu einem Ergebnis gekommen, das keiner gewollt hat?" oder "Wer ist der Schuldige?" oder "Wie hätte sich wer anders verhalten sollen?" diskutiert. Derart ritualisierte Art, mit Fantasien umzugehen, befördert letztendlich die Verdrängung der Fantasien. Es ist also sehr fraglich, was "gefährlicher" ist, die Freisetzung oder die ritualisierte Verdrängung.

Sodann kann festgestellt, dass die szenische Interpretation Fantasien nicht nur freisetzt, sondern auch bearbeitet. Jede Fantasie als Inbegriff eines potentiellen Motivs realisiert sich im szenischen Spiel als sichtbare Handlung - in objektivierten Haltungen, in szenischen Abläufen oder szenischen Verfremdungen. Jede Fantasie wird in den Kontext der gemeinsamen Spiel- und Interpretationstätigkeit gestellt. Sie wird im wörtlichen Sinne hinterfragbar: Wenn zwei Schüler Riff und Diesel als Standbild darstellen und andere SchülerInnen aus ihren Rollen als Tony, Maria, Gladhand etc. heraus diese Standbilder "befragen" oder szenisch kommentieren, mit Musik unterlegen oder aufgrund von Musik verändern, wenn eine Regiegruppe "von außen" beobachtet oder eingreift, wenn das eingefrorene Standbild musikgeleitet "belebt" wird, ... so sind das handlungsorientierte Bearbeitungsformen.

Schließlich kann festgestellt werden, dass die Bearbeitung von Fantasien nicht in Psychosituationen, sondern in gemeinschaftlicher musikalischer Tätigkeit erfolgt. Sie geschieht entlang konkreter, musikbezogener Spielerfahrungen, beobachtbarer und veränderbarer Handlungen. Sie ist umso besser und hilfreicher, je besser die musikbezogenen Spielprozesse, die musikalischen Tätigkeiten organisiert und inszeniert sind. Die Grenze, bis zu der MusiklehrerInnen mit der szenischen Bearbeitung von Fantasien gehen können, ist daran erkennbar, inwieweit es möglich ist, stets bei musikalischer Tätigkeit zu bleiben und Fantasien als Motive von musikalischer Tätigkeit in (Spiel-)Handlungen zu realisieren. Vereinfacht gesagt, inwieweit der Unterricht noch Musikunterricht ist. In der Regel haben MusiklehrerInnen ein genaues Gespür dafür, wo diese Grenze für sie liegt. Allerdings wird diese Grenze sich durch positive Erfahrungen mit szenischem Spiel und tätigkeitspsychologisch fundierter Handlungsorientierung im Laufe der Zeit auch verschieben.

Die Arbeit mit und an Haltungen zu Musik ist als ein "gemäßigt konstruktivistisches Verfahren" bezeichnet worden (Kosuch/Stroh 1997, 4 und 19). "Konstruktivistisch", weil die LehrerIn hierbei keine Deutung des Musikstücks vorgibt. Sie geht vielmehr davon aus, dass die SchülerInnen sich die Bedeutung des Musikstücks selbst szenisch-musikalisch erarbeiten. Der gesamte Erarbeitungsprozess heißt "Interpretation" und fordert daher dazu heraus, mit anderen Arten von "Interpretation" verglichen zu werden. Es gibt keine Vorab-Interpretation der LehrerIn, die im szenischen Spiel "vermittelt" wird. Es gibt auch keine falsche oder richtige Interpretation im strengen Sinne. Der Erarbeitungsprozess kann mehr oder weniger gut, er kann präzise, genau und befriedigend oder diffus, vage und unbefriedigend sein. Er kann eine Quelle von Lust, Spaß und Freude oder von Frust, Stress und Nerv’, er kann ein Weg der Selbsterfahrung oder der Entfremdung sein. Lust, Spaß und Freude sind dabei erstrebenswerte Begleiterscheinungen, die sich erfahrungsgemäß zwingend einstellen, wenn die Arbeit präzise und genau ist.

"Gemäßigt konstruktivistisch" wurde das Konzept der szenischen Interpretation genannt, weil die Bedeutungskonstruktion durch jene oben aufgeführten "objektiven" Faktoren bedingt sind, die für die jegliches tätigkeitspsycholgische "Konstruieren" gelten. Im Falle der szenischen Interpretation, die ja eine "Inszenierung" einer MusiklehrerIn ist, kommt noch hinzu, dass Methodenauswahl und Spielleitung immer auch erkennen lassen, was die Musik der MusiklehrerIn bedeutet. Für alle Handlungstheorien ist die demokratische und gleichberechtigte Mitwirkung von SchülerInnen eine unabdingbare Forderung. Dennoch haben Theorien keinen Sinn, die aus technischen Gründen nicht realisierbar sind. So kann nicht einfach ignoriert werden, dass LehrerIn und SchülerInnen unterschiedliche Rollen haben. Die methodische "Inszenierung" gehört ebenso mit zur Rolle der MusiklehrerIn wie die Tatsache, dass sie professionelle Erfahrungen mit der Methodenwahl hat. Die SchülerInnen neben den Inhalten auch die Methoden selbstbestimmt finden zu lassen, ist ja selbst wieder eine Methode, von der LehrerInnen ganz genau wissen, was sie bedeutet und wie sie zu handhaben ist. Anstatt die unterschiedlichen Rollen und Aufgaben bei der Inszenierung von Lerntätigkeiten zu verleugnen, sollten sie darauf achten, dass eine Tätigkeit mit allen durch die angeführten Aussagen 1 bis 10 postulierten Eigenschaften stattfindet.

Die szenische Interpretation ist daher ein geeignetes Beispiel, an dem die Prinzipien tätigkeitspsychologisch fundierter Handlungsorientierung gezeigt werden können. Auf den ersten Blick wirken die Verfahren recht dirigistisch und lehrerzentriert. Beim zweiten Blick bemerkt man, dass alle wichtigen inhaltlichen Entscheidungen von den SchülerInnen getroffen werden, während die LehrerIn sich weit gehend auf die Handhabung der Methode, der Inszenierung beschränkt. Sind sich SchülerInnen und LehrerIn in diesem Sinne ihrer Rollen bewusst, so dürften sie keine Probleme mit dem musikpädagogischen Paradigmenwechsel haben. Die Lehrerrolle beinhaltet im Ideal die durch die Tätigkeitspsychologie vorgezeichnete "Inszenierung" der "Konstruktion von Bedeutung", des Verstehens von Musik. Dabei ist jene Inszenierung genauso wenig ausschließlich "objektiv" wie die Bedeutungs-Konstruktion ausschließlich "subjektiv" ist. Daher ist der Vorwurf, der gegenüber dem radikalen Konstruktivismus erhoben werden kann und der besagt, dass der Unterschied zwischen "objektiv" und "subjektiv" vollständig verwischt wird, bei der tätigkeitspsychologischen Handlungsorientierung unbegründet. Der "objektive" Faktor wird allerdings durch die Subjektivität der LehrerIn dynamisiert und der "subjektive" Faktor der musikalisch tätigen SchülerInnen an den "objektiven" Bedingungen von Motiv-Entstehung und -Entwicklung, am sozialem Handlungsrahmen und durch das vom gesellschaftlichen Sein bestimmte Bewusstsein, das die Handlungen reguliert, gebrochen.

Die Angst, dass Musik nach dem Paradigmenwechsel im Supermarkt der Beliebigkeiten an Bedeutung verlieren wird, ist unbegründet. Trotz subjektiver Bedeutung-Konstruktion müssen musikalische Bedeutungen und muss Musikverstehen nicht beliebig oder zufällig sein. Weder im Musikunterricht, noch im wirklichen Leben der SchülerInnen. Im Musikunterricht dann nicht, wenn die Kriterien der Tätigkeitspsychologie erfüllt sind. Im wirklichen Leben dann nicht, wenn die Aussagen der Tätigkeitspsychologie die Wirklichkeit tatsächlich psychologisch erklären. Die vorliegende Abhandlung hat vielleicht verständlich gemacht, warum ich von letzterem überzeugt bin.

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