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Ein Vortrag von Wolfgang Martin Stroh (1990, gedruckt 1991)

Gibt es eine andere Musikwissenschaft?

Musik als eine andere Erfahrung?

Die moderne Wissenschaft, die uns den Zustand der heutigen Industriegesellschaften in Ost und West mitbeschert hat, vermittelt, sobald sie sich mit einem Gegenstand beschäftigt, ganz spezifische Erfahrungen über diesen Gegenstand: wissenschaftliche Erfahrungen. MusikwissenschaftlerInnen wissen, wie schwer der Prozeß der wissenschaftlichen Erfahrungs-Vermittlung im Falle des Gegenstandes Musik ist. Immer wieder muss sich unsere Zunft gerade auch vor MusikerInnen legitimieren, warum sie es nicht aufgibt, wissenschaftliche Erfahrungen über einen Gegenstand vermitteln zu wollen, der ja selbst - ohne wissenschaftliche Vermittlung - so vielfältige und direkte Erfahrungen zu vermitteln imstande ist!

Musik ist wohl seit eh und jeh - heute jedoch in ganz besonders breiter Weise -

Ich möchte die These aufstellen, daß diese besondere Eigenschaft von Musik dafür verantwortlich zu machen ist, daß sich die Musikwissenschaft im Zustand einer heilsamen Daueridentitätskrise befindet. Nicht nur eine vielleicht doch weit weg liegende Herausforderung durch östliche Weisheiten, sondern Eigenschaften der Musik (in Ost und West) selbst stellen daher die Frage, ob es eine Musikwissenschaft geben kann, die
- die Musik im Zusammenhang mit der Suche nach anderen Erfahrungen nicht mißversteht,
- die entsprechenden Eigenschaften von Musik nicht zerstört,
- und diese besonderen Eigenschaften für die westlichen Menschen nutzbringend und kritisch fördert.

Musikwissenschaft, die diese drei Bedingungen erfüllen würde, möchte ich die andere Musikwissenschaft nennen. Zu bewähren hätte sich diese andere Musikwissenschaft nicht nur durch ein adäquates Verstehen aller heute geläufigen esoterischen musikalischen Handlungen, nicht nur durch eine überzeugende Interpretation der mitteleuropäischen Musikgeschichte, sondern auch durch eine andere Sicht jener Probleme und Gegenstände, die die Systematische Musikwissenschaft seit ihrer Gründung durch Pythagoras bearbeitet oder bewußt nicht bearbeitet hat. Insofern ist die andere Musikwissenschaft weder eine alternative, noch eine Anti-Wissenschaft, sondern eher Inbegriff menschlichen Bemühens um eine systematische Art der Erfahrungserweiterung, die als Spezial- und Grenzfall die traditionelle westliche Musikwissenschaft enthält.

Daß die sogenannte esoterische Wissenschaft nicht notwendig die andere Musikwissenschaft repräsentiert, möge das Beispiel der harmonikalen Forschung, die ja eine ehrwürdige Traditionslinie der Systematischen Musikwissenschaft darstellt, zeigen: Die Basis der harmonikalen Forschung ist der wesenhafte Zusammenhang von Musik und Zahl, den Pythagoras mittels eines empirischen Experiments in einer Schmiedewerkstatt gefunden haben soll. Im Sinne eines "Weltbildes" reicht dieser Zusammenhang indes noch weiter. Nicht nur das Wesen der Musik, sondern auch das Wesen der Welt "ist" Zahl und damit Ordnung. Musik bringe dies Wesen besonders unmittelbar - als Harmonie - zur Erscheinung [was Hegel anerkennt, wenn er Pythagoras zitiert, und was sogar Schopen- hauers Musikphilosophie mitumfasst]. Aber auch der Kosmos, die Natur des Menschen, die Innenwelt der Atome enthalten dies Wesen.

Die harmonikale Forschung kehrt nun genauso, wie es Robert Monroe bei der Entwicklung seiner Brain Machines getan hat, die Logik dieses Zusammenhang um. Aufgrund der mehr oder weniger exakt bestimmten empirischen Eigenschaften von Musik und Welt werden Handlungsanweisungen für die musikalische Tätigkeit von Menschen entworfen. Und dies ist das westliche Mißverständnis: die Umkehr von empirischer Beobachtung und Messung in Moral, Ethik oder Kommerz. Im Sinne der anderen Musikwissenschaft hingegen, wäre solch ein Mißverständnis zu ersetzen durch ein systematisches Bemühen um die Erweiterung harmonikaler Erfahrungen mit Musik.

Eigenschaften der anderen Musikwissenschaft

Eine Musikwissenschaft, die sämtliche Wesenszüge - inclusive der im vorigen Abschnitt erwähnten - nicht mißversteht und zerstört, sondern nutzbringend und kritisch fürdert, muß vier Eigenschaften besitzen, die schon seit längerem diskutiert werden und daher keinen Anspruch auf absolute Neuigkeit und Originalität erheben. Es ist allerdings zu erwarten, daß diese notwendigen Eigenschaften zur Charakterisierung der anderen Musikwissenschaft nicht hinreichen. Indessen meine ich, daß, wer bereit ist, die notwendigen Bedingungen zu erfüllen, zumindest auf dem Wege ist. Und mehr wird man von der anderen Musikwissenschaft auch nicht verlangen können.

1. Das Verhältnis des Forschungssubjetks zum Forschungsobjekt ist neu zu bestimmen. Die Trennung von Subjekt und Objekt sollte ein Grenzfall eines anderen Verhältnisses sein, das sich in der Methodendiskussion der letzten Jahre unter Stichworten wie teilnehmende Beobachtung, Handlungsforschung, projektartiges Forschen als Wunsch angebahnt hat. Die musikpädagogische Unterrichtsforschung hat beispielsweise den Satz Werner Heisenbergs bestätigt, daß die beobachtete Situation eine andere als die unbeobachtete ist und jede Beobachtung eine Interaktion zwischen BeobachterIn und Beobachtetem darstellt. Jede Beobachtung ist mit einer "Unschärfe" behaftet, da, je genauer beobachtet wird, die Veränderung des Beobachteten durch die Beobachtung umso größer wird. Auch im Falle des in Hamburg entwickelten Polaritätsprofils ist von Anfang an diskutiert worden, daß durch ein derartiges Verfahren nicht das "musikalische Verhalten" von Menschen, sondern die Reaktion von Menschen auf die Vokabeln des Polaritätsprofils gemessen wird. Während also die exakte (Musik-)Wissenschaft das Verhalten von Menschen nur unter Versuchsbedingungen und damit diese Bedingungen selbst mißt, müßte die andere Wissenschaft die Interaktion zwischen Beobachtetem und BeobachterIn und die Heisenbergsche Meßunschärfe akzeptieren und als besonderen Erfahrungswert zu schätzen lernen.

2. Eine Zerstückelung des Forschungsgegenstandes durch den analysierenden Forschungsprozeß ist unzulässig. Es ist bekannt, daß und wie isolierte Parameter sich zwar gut einzeln analysieren lassen, ein nachträgliches Zusammensetzen der Einzelergebnisse aber kein Bild vom Ganzen ergibt, das die/den Analysierende/n motiviert hat, die Analyse vorzunehmen. Die Forderung nach einer "ganzheitlichen" wissenschaftlichen Herangehensweise an den Gegenstand Musik ist daher sehr alt, aber wegen vieler Detailprobleme im Grunde noch nicht operationalisiert. Dabei hat gerade auch die Formanalyse oft Ergebnisse erbracht, die holistische Konzeptionen beinhalteten: etwa dann, wenn bei Bach- Inventionen, Beethoven-Sinfonien oder bei Webern-Aphorismen festgestellt wurde, daß jedes auch noch so kleine Teil die Idee des Ganzen auch strukturell enthält. Die andere Musikwissenschaft sollte die Zerstückelung und Analyse von Teilen verstärkt und methodisch verantwortungsvoll, eben holistisch betreiben.

3. Der wissenschaftliche Prozeß und die wissenschaftliche Erkenntnis darf die Komplexität des Gegenstandes nicht zerstören. Alle Forschungsprozesse lassen sich "thermodynamisch" als eine Verringerung von Unordnung bzw.der Komplexität von Wirklichkeit auffassen. Bereits die Auswahl eines Gegenstandes reduziert Komplexität, sodann spezifische wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden, sodann der Forschungsprozeß selbst und noch einmal die Darstellung der Ergebnisses dieses Prozesses. Jede musikwissenschaftliche Analyse eines Musikstücks und jede wissenschaftliche Darstellung eines musikbezogenen Problems ordnet und systematisiert etwas, was in Wirklichkeit in komplexer Form, quasi ungeordnet vorliegt. Die andere Musikwissenschaft sollte solche Unordnung als ein kreatives und produktives Moment des Erkenntnisprozesses einsetzen, sollte dabei von ihrem Gegenstand (Musik) lernen. Auch hier gibt es längst eine wissenschaftliche Diskussion, die heute unter dem Stichwort Chaosforschung und Chaostheorie abgehandelt wird. Danach ist Chaos nicht nur das Gegenstück von Ordnung bzw. deren Auflösung, sondern auch die Voraussetzung von Ordnung in dem Sinne, daß jeder Sprung zu höherer Ordnung einen chaotischen Zustand voraussetzt.

4. Die Vermittlung wissenschaftlicher Erfahrungen über den Gegenstand Musik kann nicht ausschließlich sprachlich diskursiv sein. Musik gilt ja bei so gut wie allen kommunikationstheoretisch argumentierenden MusikwissenschaftlerInnen als eine besondere Mitteilungsform, die nicht-sprachlich ist und deren Mitteilungen sich auch nicht in Sprache umformulieren lassen. Insofern liegt es natürlich nahe, von der Musik selbst zu lernen und zu fordern, daß die musikwissenschaftliche Vermittlung von der besonderen Mitteilungsform Musik lernt. Dies braucht nicht zu bedeuten, daß alle Ergebnisse musikwissenschaftlicher tätigkeit sich in Musikstücke oder sonstige musikpraktische Handlungen umsetzen lassen sollten. Dies sollte aber dazu herausfordern, daß die andere Musikwissenschaft ihre Vermittlungstätigkeit an dem Anspruch, den die Musik als besondere Form von Mitteilung selbst erhebt, zu messen bereit ist. Unter der Bezeichnung Intuition kann der qualitative Umschlag eines schrittweise, rational-analytischen Erkenntnisprozesses in einen ganzheitlichen bezeichnet werden. Die Mitteilungsform Sprache sollte ein wichtiger und für bestimmte Formen des Diskurses notwendiger Grenzfall sein, der für bestimmte Mitteilungsaufgaben eingesetzt wird.

Diese vier Eigenschaften sind vier Seiten einer Sache. Mit den modischen Begriffen wie Unschärfe, Holismus, Chaos und Intuition, deren ich mich bewußt bedient habe, um den Gesamtzusammenhang anzudeuten, auf dessen Hintergrund sich die andere Musikwissenschaft abzu spielen hätte, wird ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel gefordert, auf den die Naturwissenschaften im Gefolge Einsteins und Heisenbergs drängen. Mein Kommentar zu dieser Paradigmenwechsel- Diskussion ist, daß die Musik schon seit eh und jeh im Pythagoreisch-Newtonschen Zeitalter die Sehnsucht der Menschen nach jenem Anderen, das den Paradigmenwechsel einläuten soll, zum Ausdruck gebracht hat.

Literatur (in der Reihenfolge, in der sie vorkommt)

Kenneth R. Pelletier: Unser Wissen vom Bewußtsein. Von Psyche und Soma, Reinbek 1988. [Meditationsforschung.]

Lutz Schwäbisch und Martin Siems: Selbstentfaltung durch Meditation, Reinbek 1988 [orig. 1976]. [Meditationsforschungskritik.]

Heinrich Husmann: Vom Wesen der Konsonanz, Heidelberg 1953. [Direkt zitiert.]

Jochen Kirchhoff: Klang und Verwandlung. Klassische Musik als Weg der Bewußtseinserweiterung, München 1989. [Andere Musikwissenschaft und "klassische Musik".]

Hugo Kükelhaus und Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne. Ein "Erfahrungsfeld" zur Bewegung und Besinnung, Ffm. 1982. [Erfahrungsbegriff.]

Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einermanthropologischen Ästhetik, Reinbek 1987. [Erfahrungsbegriff.]

Wolfgang Martin Stroh: Neue Bedürfnisse und altes Wissen um Musik, in: ZfMP 52, 1989. [Musik und andere Erfahrungen.]

Bartel L. van der Waerden: Die Pythagoreer: religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft, Zürich 1979. [Schmiedelegende.]

Albrecht Riethmüller: Ausklang - Pythagoras in der Schmiede, in: Neues Hb. der Mw., Band 1, Laaber 1989. [Schmiedelegende.]

Georg W. Fr. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Ffm. 1971 [Hegel Werke 18]. [Direkt erwähnt.]

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung < 52 ff.>.[Direkt erwähnt.]

Hans Kayser: Akroasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt, Basel 1984. [Direkt erwähnt.]

Roland Girtler: Methoden der qualitativen Sozialforschung, Wien/Köln/Graz 1984. [Teilnehmede Beobachtung u.a.]

Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alttagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, 51981. [Methodendiskussion.]

Hermann J. Kaiser: Musik in der Schule?, Paderborn 1982. [Unterrichtsforschung.]

Werner Heisenberg: Physik und Philosophie, Ffm. 1959 [Ullstein 249].[Unschärferelation.]

Hans-Peter Reinecke: Über Allgemeinvorstellungen von der Musik..., in: Fs. Walter Wiora, Kassel 1967. [Polaritätsprofil.]

Günter Kleinen: Experimentelle Studien zum musikalischen Ausdruck, Hamburg 1968. [Polaritätsprofil. Anmerkung: Hier kommt das "hoch ladende Begriffspaar Kosmos-Chaos" vor! Seite 56 ff.]

Werner Pütz: Auf der Suche nach der verlorenen Ganzheit, in: ZfMP 49, 1989. [Ganzheit.]

Herbert Bruhn: Harmonielehre als Grammatik der Musik, München/Weinheim 1988. [Ganzheitliche Repräsentation von Musik.]

Ken Wilber (Hg.): Das holographische Weltbild. Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Weltverständnis, München 1990 [orig. 1982]. [Holistisches Denken.]

Werner Ebeling: Chaos - Ordnung - Information, Leipzig 1989. [Chaosforschung.]

David Bohm und F. David Peat: Das Neue Weltbild. Naturwissenschaft, Ordnung und Kreativität, München 1990 [amerik. Orig. 1987]. [Chaosforschung.]

Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Reinbek 1969. ["Digitale" Kommunikationsästhetik.]