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Zur Geschichte der "Apparativen Musikpraxis" (heute "Medienmusikpraxis")

dargestellt von Wolfgang Martin Stroh

Die "Apparative Musikpraxis" gehörte 1974 bei der Gründung der Universität Oldenburg mit zu den bundesweit umstrittensten Ausbildungsgebieten innerhalb der Musiklehrerausbildung. Mit 4 Synthesizern vom Typ "EMS Synthi A" (heute Kultinstrumente mit hohem Prestigewert) und einem Set professioneller Revox-Bandmaschinen eröffnete das Fach Musik ein "Tonstudio", das bis 2006 1500 angehende MusiklehrerInnen durchlaufen haben und das heute wie vor 30 Jahren in zwei unmenschlich schmalen Arbeitsräumen hinter der Aula-Bühne sowie zwei kleinen, dunklen Studioräumen untergebracht ist, obgleich die Studentenzahlen von 80 auf ca. 600 gestiegen sind.

 Das Gründungskonzept des Faches Musik/Auditive Kommunikation am Fachbereich 2 Kommunikation/Ästhetik der Universität Oldenburg ist dargestellt von Ulrich Günther in Musik und Bildung 7-8/1975, S. 337-344, und unter Anleitung des Musik und Bildung-Herausgebers und amtierenden Musikpädagogik-Ordinarius von Oldenburg, Egon Kraus, auf den Seiten 344 bis 369 "widerlegt" worden von Friedrich Klausmeier, Helga de la Motte-Haber, Peter Brömse, Gisela Distler-Brendel, Siegfried Vogelsänger und Heinz Antholz. Dieser Vorgang ist in der deutschen Geschichte der Musikpädagogik genauso einmalig wie die Tatsache, daß sich das Oldenburger Konzept - dennoch - glänzend bewährt hat und inzwischen "Allgemeingut" fortgeschrittener musikpädagogischer Diskussionen geworden ist.

Die "Apparative Musikpraxis" - ein Wortungetüm, das sich in Oldennburg lange erhalten hat (näheres hierzu im Artikel "Apparative Musikpraxis" von Wolfgang Martin Stroh im Neuen Lexikon der Musikpädagogik. Sachteil, hg. von Siegmund Helms u.a., Bosse/Kassel 1994) - stand konzeptionell im Rahmen wichtiger Strukturmerkmale des "Oldenburger Modells":

Literatur. Niels Knolle: Der Studiengang "Musik/Auditive Kommunikation" an der Universität Oldenburg (Rahmen - Planung - Erfahrung). In: Forschung in der Musikerziehung 1976: Musikpädagogik in der Studienreform. Schott, Mainz 1976, S. 189-207; mit Erwiderung auf Musik und Bildung 7-8/1975. Fred Ritzel und Niels Knolle: Probleme der berufsbezogenen musikpraktischen Ausbildung an der Universität Oldenburg. In: ebenda, S. 134-148 (enthält einen Studienplan und im 2. Teil eine Darstellung der Konzeption der "musikpraktischen Ausbildung im technisch-apparativen Bereich").

 1974 bis 1984 lief an der Universität Oldenburg der Modellversuch "Einphasige Lehrerausbildung", deren musikbezogene Prüfungsordnung die Möglichkeit vorsah, daß die Studierenden in der "Praktisch-Theoretischen Prüfung" zwischen einem "instrumental-vokalen" und einem "apparativen Schwerpunkt" wählen konnten. Dies war ein provozierendes Novum, das durch die Prüfungsordnung von 1983 für die zweiphasige Lehrerausbildung, die einheitlich an allen Musikausbildungsstätten Niedersachsens gilt (Musikhochschule Hannover, Universitäten Lüneburg, Hildesheim, Osnabrück und Oldenburg), abgeschafft wurde.

 
Abbildung: Ein Studium mit "apparativem Schwerpunkt" war aufgrund des oftmals auftretenden Bandsalates nicht einfach - mit Ausnahme der Entsorgung, die durchaus kulinarische Züge tragen konnte. Abbildung: StudentInnen im Tonstudio 1979.

 

 

 

 

Anfänglich lag das Schwergewicht der apparativen Ausbildung auf der Tonbandpraxis und fügte sich ein in das Konzept der "Auditiven Wahrnehmungserziehung", das in Oldenburg von Ulrich Günther propagiert und von Niels Knolle apparativ realisiert wurde. In den ersten Jahren nach 1974 entstanden Dutzende von Hörspielen, Collagen, vertonte Dia-Shows, aber auch elektroakustische Installationen vom Typ "Mikrofonie" von Stockhausen.

 
Abbildung: Der in Oldenburg wirkende exil-chilenische Komponist Gustavo Becerra-Schmidt war für den Ausbau der synthetischen elektronischen Musik auf der Basis von Synthesizern und Peripherie des Typs EMS "Synthi A" verantwortlich. ("Synthi A", von denen das Fach 3 Stück besaß, gehören heute zu den Top-Kult-Instrumenten von Techno.)

 1978 kam Wolfgang Martin Stroh nach Oldenburg, der Erfahrungen aus Kooperationsprojekten zwischen Universität und Rundfunk-Studios (SWF und Uni Freiburg) mitbrachte und die Apparative Musikpraxis als Teil einer Ausbildung in den "Theoretischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Musik" in Oldenburg etablieren wollte. Die Anfang der 80er Jahre einsetzende Arbeit der Niedersächsischen Studienreformkommissionen haben diesen Ansätzen zusammen mit dem Projektstudium und der Einphasigen Lehrerausbildung allerdings ein Ende bereitet.

Wie in der einschlägigen Szene auch, so vollzog sich in der Apparativen Musikpraxis um 1980 eine Umorientierung weg von ausschließlich experimentellem Denken im Sinne der elektronischen Avantgarde und musique concrète hin zu apparativen Denk- und Produktionsweisen der Popularmusik. 1980 wurde der Synthesizerpark mit der kompletten MS-Serie von Korg - den ersten "Volkssynthesizern" der Pop-Szene - ausgebaut und 1982 ein professionelles 16-Kanal-Tonstudio zur Simulation von kommerziellen Musikproduktionsprozessen aus Mitteln der neu gebauten Bibliothek eingerichtet.


Abbildung: Der erste Musikvolkscomputer "Commodore 64" in Verbindung mit midifizierten Analogsynthesizern (Roland Juno 60) und dem ersten deutschen Software-Soundsampler (für den C 64) von Doepfer.

 Mitte der 80er Jahre tastete sich die apparative Ausbildung vorsichtig auf das neue Feld der auf Midirecording und Soundsampling abzielenden Musikcomputer vor. Die ersten Geräte befanden sich noch im Privatbesitz der Dozenten zu Hause. Anfang 1986 startete Wolfgang Martin Stroh eine Artikel-Serie in der Zeitschrift "Populäre Musik im Unterricht" mit Tips und Praxistests für den "Commodore"-Einsatz.

 1987 begann in der apparativen Ausbildung der Einstieg in die Digitalära und das Midirecording. Niels Knolle gab bei der midi-pädagogischen Schriftenreihe in Berlin mehrere Hefte mit Einführungen in die Bedienung von Midirecording-Software (auf sämtlichen Plattformen) heraus, die sich an "Musikgebildete" wendet. Er formulierte auch ein erstes Resumee unter dem Titel "Ist MIDI maxi? Thesen zum Umgang mit Neuen Technologien im Musikunterricht" in den Oldenburger Vor-Drucken (Zentrum für pädagogische Berufspraxis. Universität Oldenburg 1987). - Die Tradition der experimentellen Musik wurde unter dem Stichwort "algorithmisches Komponieren" und "Computermusik" fortgesetzt. Wolfgang Martin Stroh schrieb für die midi-pädagogischen Schriftenreihe in Berlin zwei Lehrbücher zum algorithmischen Komponieren. Bis 1997 wurde allerdings neben solcherart "Computermusik" in Oldenburg auch noch mit analogen Tonbandtechniken gearbeitet. Näheres siehe unten im Kapitel Binnendifferenzierung.

Beispiel des Veranstaltungsangebot des Faches Musik im SS 1974:

Experimentelle Entwicklung und Erprobung von Produktionsformen, ausgehend von der Arbeit mit technischen Mittlern Barth

AppMpr 

Kompositorische Probleme apparatiproduzierter Musik Becerra-Schmidt

AppMpr 

Lateinamerikanische Musik Becerra-Schmidt

Mw 

Musik in den Massenmedien als Unterrichtsgegenstand Günther

Mp 

Instrumentalunterricht diverse

IvMpr 

Kammermusik diverse

IvMpr 

Beschaffenheit und Funktion von Musik am Arbeitsplatz Knolle

Mw 

Werke Beethovens - Analyse und Interpretation Kraus

Mw 

Oper von Monteverdi bis Mozart Kraus

Mw 

10 

Didaktik des Musikunterrichts, Sek I Kraus

Mp 

11 

Didaktisches Kolloquium Kraus

Mp 

12 

Experimentelle Arbeit mit technischen Mittlern Kunze

AppMpr 

13 

Experimentelle Praktiken zur Erarbeitung grundlegender Kategorien neuer und traditioneller Musik Meyer-Denkmann

IvMpr 

14 

Kontrapunkt Müller

Mth 

15 

Harmonielehre III Müller

Mth 

16 

Harmonielehre II Müller

Mth 

17 

Improvisation Teubert

IvMpr 

18 

Bläserkreis Volacek

IvMpr 

19 

AG Jazz Weinreich u.a.

IvMpr 

Vergleich der Veranstaltungsangebots des Faches Musik SS 1974 / SS 1997:

  Die "Proportionen" zwischen den unterschiedlichen Studienbereichen haben sich zwischen 1974 und 1997 nur unwesentlich verändert, obwohl die Gesamtanzahl der Kurse von 19 auf 84 sich mehr als vervierfacht hat. Die "Musikwissenschaft" ist auf Kosten der instrumental-vokalen Musikpraxis und Musiktheorie geschrumpft, die Apparative Musikpraxis hat nur einen leichten Schwund zu verzeichnen. Die Studentenzahlen haben sich zwischen 1974 und 1997 in etwa versiebenfacht. Interessant ist die Reihenfolge, in der die Kuse im Veranstaltungsverzeichnis 1974 aufgeführt sind.


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