100 Jahre Elektronische Musik

eine multimediale Lernumgebung

06. Elektronische Musik und Sprache, "Realismus-Diskussion"

Das zentrale Produktionsmittel der Elektronischen Musik war das in der Rundfunkwelt beheimatete Tonbandgerät. Üblicherweise wird es verwendet, um "reale Klänge" aufzunehmen und wiederzugeben. Neben Alltagsgeräuschen sind Sprachklänge die wichtigsten "realen Klänge". Die Kölner Elektronische Musik hat dies Potential des Tonbandgeräts anfangss gezielt verkannt und quasi kreativ "missbraucht". Der "Missbrauch" bestand darin, dass elektronische und künstliche statt "realer" Sounds aufgenommen und wiedergegeben wurden. Doch bald stellte sich allen die Aufgabe, die dem Tonbandgerät adäquate Fähigkeit, reale Klänge aufzunehmen und wiederzugeben, irgendwie mit dem Ansatz der Elektronischen Musik Kölner Prägung - also vor allem des "seriellen Komponierens" - zu versöhnen und dabei nicht auf das verachtete Niveau der Musique Concrète herab zu sinken. Es verwundert nicht, dass vor allem in den neu gegründeten Studios außerhalb Kölns diesbezüglich gute Arbeit geleistet worden ist, aber auch Stockhausen hat sich bald des Problems angenommen. Auch Herbert Eimert und Ernst Krenek haben schon bald Kompositionen mit Sprachaufnahmen im WDR-Studio produziert. - Prototypisch werden im Seminar drei elektronische Sprachkompositionen der 1950er Jahre besprochen: Luciano Berios “Ommagio a Joyce” 1958, Luigi Nonos “La Fabbrica Illuminata” 1964 und Karlheinz Sockhausens “Gesang der Jünglinge” 1956.

Vorgehen in einer 90-Minuten-Einheit: Erste Orientierung/Hörübung (15 Minuten), Kurzeinführung zu "Musik und Sprache" (15 Minuten), Kleingruppenarbeit mit drei Gruppen zu drei Kompositionen (30 Minuten), ausführliche Diskussion der Kleingruppenergebnisse und Zusammenfrassung (30 Minuten).

Die PowerpointPräsentation Ppt 6 führt durch die gesamte Stunde und enthält viel Bild- und Anschauungsmaterial.


Orientierung/Hörübung

Hören Sie Ein-Minutenausschnitte aus drei elektronischen Kompositionen, in denen Sprachmaterial verarbeitet wird, und versuchen Sie, das verwendete Material (Sprache und Elektronik) zu identifizieren und den Ausschnitten aus drei unterschiedlichen Kompositionen zuzuordnen. Setzen Sie in der ersten Tabelle von Arbeitsblatt 6 entsprechende Kreuze!

Lösung dieser Aufgabe:

hörübung.

"Musik und Sprache"

(Folien 1-11 der Ppt6). Worin besteht das "Problem"? Antwort auf Blatt 06:

Kritik an der (frühen) Kölner Schule:

  1. Serielle Musik ist eine reine Spielerei und die historische Ableitung ist eine “Konstruktion”,
  2. die Möglichkeiten des Tonbandes für die Musik - “Aneignung von Wirklichkeit” - sind nicht genutzt,
  3. welche Botschaft hat der Komponist, was ist der Inhalt und die Bedeutung der Musik?

Mögliche Entgegnung:

  1. Auch wenn die historische Ableitung “konstruiert” ist, kann die Musik ästhetisch überzeugen,
  2. Musik hat gar nicht die Aufgabe Wirklichkeit anzueignen (widerzuspiegeln),
  3. die Botschaft/Bedeutung der Musik wird vom Hörer gemacht, was der Komponist “sagen wollte”, ist seine Privatsache.

Die Entgegnung 1. stammt u.a. von Carl Dahlhaus (“auch theoretisch  irrige Werke können gültig sein”); 2. stammt von Eduard Hanslick (“Musik ist nichts als tönend bewegte Form”); 3. stammt aus der Theorie des Konstruktivismus (“die Bedeutung der Musik wird vom Hörer ‘gemacht’”).
→ Trotz Abgrenzung von der “Musique Concrète” beginnt man ab Mitte der 1950er Jahre in Köln und anderswo (Mailand 1955, Warschau 1957, Gent 1963, Stockholm 1964) an der Frage der “Sprachvertonung” durch Elektronik zu arbeiten. Dabei spielt eine Rolle, was bereits Pierre Schaeffer beschäftigt hatte, dass sowohl die Sprache als auch die Musik einen Doppelcharakter hat:

Form - Inhalt
Syntax - Semantik
das Bezeichnende - das Bezeichnete

Zur Systematik des "Sprachmaterials" als Grundlage elektronischen Komponierens:

Sprachlaute

Im folgenden Video sehen Sie Spektogramme und teilweise Schwingungsbilder dieser Sprachlaute. Sie können die Geräuschhaftigkeit oder "Harmonizität" gut erkennen:

 

Vergrößern Sie das Video auf HD-Größe (1280x720 Pixel)!

Als Anwendungsbeispiel wird hier in einem Viddeo die Materialverarbeitung in Stockhausens "Gesang der Jünglinge" gezeigt:

Drei exemplarische Kompositionen (Kleingruppen)

Den Kleingruppen stehen zur Verfügung die jeweils verwendeten Texte (auf Blatt "Alle Texte.pdf") sowie jeweils ein Musikbeispiel (Nono und Stockhausen sind gekürzt), ferner Hinweise auf weiter führende Texte:

1. „Gesang der Jünglinge“ von Karlheinz Stockhausen

- Frisius 2018, S. 44 (ab „Beim Versuch der..“) bis S. 47 (oberer Teil)

2. „Ommagio a Joyce“ von Luciano Berio

Text gesprochen:

die Musik

- die Sendung des WDR zur Entstehung (2 min)
Berio 1959, S. 40 (ab „Mithin“) bis 42 (oben)

3. „La Fabbrica Illuminata“ von Luigi Nono

- Henius 1973, S. 337, 340-342 (oben)
- Lück 1972, S. 280-282

Auf Pptx6 sind zahlreiche Partiturausschnitte und Bilder zur Entstehung dieser drei Stücke zu sehen!

Kurzkommentare (Ergebniszusammenfassung) zu den drei Stücken (auch auf Blatt 6):

Karlheinz Sockhausen “Gesang der Jünglinge” 1956:  Von einem Jungen gesungene Sprachlaute werden “durch ein künstliches Verfahren objektiviert und in die Natur der elektronischen Klänge eingeschmolzen... die Übergänge vom Sprachsinn zum musikalischen Sinn sind fließend”  (Stockhausen 1955). Dieser Vorgang wird spirituell aufgeladen und als Erfüllung der Textintension betrachtet: “Vergesse man nicht, daß die 2-jährige Realisationsarbeit von 1954 bis 1956 eine einzigartige Zeit jubelnden Gotteslobes und ich selbst ein ‘Jüngling im Feuerofen’ war”, (Stockhausen 1991 im CD-Booklet).
Luciano Berio “Ommagio a Joyce” 1958: Sprachphilosophie wird auf dem Hintergrund der “strukturalistischen Sprachhilosophie” betrieben. Berio arbeitet mit Umberto Ecco zusammen und verwendet gezielt einen Text von James Joyce, dessen Bedeutung weitgehend im Sprachklang liegt. Drei Sprachfassungen (Englisch, Französisch, Italienisch) werden aufgenommen und einander so überlagert und fragmentiert, dass Sprache nur noch musikalisch wahrgenommen werden kann. Berio verwendetals Material  nur den gelesenen Text von Joyce und nimmt keine weiteren synthetischen Klänge dazu, “da ich lediglich die Absicht hatte, die Lesung des Textes von Joyce in ein Feld von Möglichkeiten zu entfalten, die der Text selbst ausspricht”.
Luigi Nono “La Fabbrica Illuminata” 1964: Die elektronische Verarbeitung von Sprache, die dem Arbeitsalltag von Fabrikarbeitern entommen ist oder darauf Bezug nimmt, soll das, was diesen Alltag prägt, (musikalisch) verstärken und bewusst machen. Die Wirklichkeit (= Arbeitsbedingungen bei der Stahlherstellung) wird zudem auch real aufgenommen und elektronisch in die Sprachkomposition eingearbeitet. Die Aufführung erfolgt für Live-Stimme und Tonband. Die Komposition wurde im Rahmen einer “Kampagne” der KPI zahlreichen Arbeitern zur Diskussion gestellt. “Nie war für mich ein nur formales Prinzip das entscheidende Moment, sondern die Provokation, musikalisch, textlich, menschlich; prinzipiell kann man sagen: aus der ersten Idee ergibt sich die Notwendigkeit für ein bestimmtes musikalisches Material, dann aber gibt es verschiedene Momente der Bearbeitung, des Experimentierens... die letzte Stufe der Arbeit ist, dass es dann wieder zu einer Synthese mit der Idee kommen muss”.

Weitere Internet-Quellen zu den beiden Stücken auf Blatt 6.

Weiterführende (Haus-)Aufgabe:

Hören Sie sich die erste Filmmusik an, die ausschließlich mit elektronischen Mitteln gemacht ist:  „The Forbidden Planet“ 1956 von Louis und Bene Baron .

Dazu ein Feature zur Entstehung: „The Music and SFX of Forbidden Planet“.
Frage: Wie unterscheidet sich diese elektronische Musik von allem, was wir bisher besprochen haben (Musique Concrète, Kölner EM und die Sprach-Kompositionen von Stockhausen, Berio und Nono)?