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„Musik lernen" und die musikalische Aneignung von Wirklichkeit

Im Anschluss an die Diskussion in „Diskussion Musikpädagogik" Heft 19 und 20 zum Thema „Musik lernen" zwischen dem Autorenteam Bähr/Gies/Jank/Nimczik einerseits, Thomas Ott und mir andererseits entstand der Plan, die entscheidenden Differenzen produktiv und öffentlich weiter auszutragen. Es wurden von Werner Jank „Impulsfragen" formuliert und den „Gegnern" Ott, Stroh zur weiteren Erörterung überantwortet. Leider ist der geplante öffentliche Meinungsaustausch nicht zustande gekommen. Meinen Beitrag möchte ich daher hiermit in Eigenregie Interessent/innen bekannt geben.

Impulsfrage zum Thema: auf Lebenswirklichkeit bezogener Unterricht vs. Konstrukt Unterricht

Wenn man einer Bestimmung dessen, was Musikunterricht leistet oder leisten kann, näher kommen will, dann erscheint es sinnvoll, unter lerntheoretischen Gesichtspunkten zwischen der Lebenswirklichkeit der Schüler einerseits und dem Konstrukt Unterricht andererseits zu unterscheiden. Darin stimmen wir wohl überein, genauso wie in der Einschätzung, dass die in didaktischer Absicht konstruierten und inszenierten Unterrichtssituationen als Lernsituationen Ausnahmesituationen sind.

Unser Konzept zielt darauf, die Lebenswirklichkeit der Schüler und das Konstrukt Unterricht so miteinander in Beziehung zu bringen, dass individuelle Lernprozesse intensiviert und optimiert werden können. Wer hingegen - wie Stroh - die im Spannungsfeld zwischen Lebenswirklichkeit und Unterricht wirkenden Kräfte als antagonistische versteht, lässt die besonderen Möglichkeiten und Chancen ungenutzt, die das Konstrukt Unterricht als Lernsituation bietet.

Warum erfährt der Lernraum "Lebenswirklichkeit der Schüler" sowohl bei Stroh als auch bei Ott (an anderer Stelle) eine ausführliche theoretische Bestimmung, während das "Konstrukt Unterricht" keiner handlungstheoretischen Reflexion unterzogen wird? Warum werden den Lehrerinnen und Lehrern Antworten auf ihre Fragen nach theoretisch fundierten Kriterien für die Erarbeitung stimmiger Unterrichtsinszenierungen verweigert?

Antwort von Wolfgang Martin Stroh auf die Impulsfrage

Ich muss im Folgenden mich häufig selbst zitieren und tue das ohne Angst davor, als Propagandist meiner längst vergessenen und wenig gelesenen Schriften verschrieen zu werden.

Mein Konzept des erfahrungsorientierten Musikunterrichts basiert auf der Psychologie musikalischer Tätigkeit (Stroh 1984) und der Konzeption von „Erfahrung" nach Hartmut von Hentig (1973) und Ingo Scheller (1981), die ich 1985 dargestellt und 1999 präzisiert habe. Die wichtigsten Prämissen und Kategorien dieses Konzepts lauten:

Nun zu unserem Diskurs:

Ausgangspunkt war die Einsicht, dass schulische Lernprozesse sich auf zwei aufeinander bezogene „Lebenswirklichkeiten" beziehen, die des „Lebens in der Schule" und die des „Lebens außerhalb der Schule". Das klingt jetzt etwas schematisch, hat aber den Vorteil, dass Verwechslungen, die zu vielen Missverständnis und Schlingerbewegungen in der Musikpädagogik geführt haben, vermieden werden. Ich nenne hier nur drei Beispiele:

(1) Von Hentig fordert, dass die Schule ein „Erfahrungsraum" sein sollte, und das wiederum bedeutet, dass sie auch ein Lebensraum sein sollte. An den Gebäuden und dem Umfeld der Bielefelder Schulprojekte lässt sich dies mit den Augen, Füßen und der Nase gut erleben.

(2) Die Diskussion um die „Un-Unterrichtbarkeit von Popmusik" beruhte darauf, dass man nicht zwischen den „Lebenswirklichkeiten" der Schule und der Jugendkultur außerhalb unterschieden hat bzw. diese Unterscheidung nicht zu handhaben wusste.

(3) Die aktuelle Diskussion um die Ganztagsschule, um PISA und letztendlich sogar um Bastians Nachmittags-Erfolge in Berlin revitalisieren die Idee der Schule als „Lebensraum", wo sich die Kinder und Jugendlichen 1/3 des Tages aufhalten.

Die These von der „Schule als Erfahrungsraum" war also einerseits getragen von der Erkenntnis, dass bei schulischen Lernprozessen zunächst die Wirklichkeit „Schule" angeeignet wird, andererseits war sie aber auch ein Hinweis darauf, dass non schola sed vitae zu lernen sei. Letzteres bedeutete, dass sich bei der schulischen Aneignung - bei der schulisch inszenierten Lerntätigkeit - auch Handlungskompetenz für das Leben jenseits von Schule herausbilden soll. Insofern habe ich auch vom Primat der außerschulischen Lebenswirklichkeit gegenüber der schulischen gesprochen. Primat heißt also: Bezugspunkt ist letztendlich das Leben außerhalb von Schule, auch wenn sich das Lernen in der Schule abspielt. Ich lasse dabei der Übersichtlichkeit halber unberücksichtigt, dass die Verarbeitung von Erlebnisse zu Erfahrungen im schulischen Musikunterricht auch meist eine Verarbeitung von außerschulischen Erlebnisse zu (innerschulischen) Erfahrungen ist.

In den zitierten allgemeinen Zielen von Musikunterricht

„der Umgang der Schüler/innen mit Musik soll aktiver, bewusster und selbstbestimmter werden"

steckt die Prämisse, dass der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Musik außerhalb der Schule zumindest teilweise passiv, unbewusst und fremdbestimmt ist. Musikalische Erlebnisse werden hier nicht immer zu Erfahrungen verarbeitet. Hier kann der schulische Musikunterricht durchaus ansetzen.

Dennoch sieht das Konzept des erfahrungsorientierten Unterrichts nach Ingo Scheller grundsätzlich vor, dass die Erlebnisse, auf die sich die schulischen Verarbeitungsprozesse beziehen, von den Lehrer/innen in der Schule inszeniert werden. Diese Inszenierung kann ein schulisches Abbild der außerschulischen Lebenswirklichkeit sein, findet aber dennoch in der Schule statt. Bei Scheller (und - prototypisch im szenischen Spiel - bei mir) wird nicht, wie das Ende der 70er im schülerorientierten Unterricht fast durchweg der Fall war, theoretisch über außerschulische Erlebnisse diskutiert. Vielmehr werden außerschulische Erlebnisse in der Schule in künstlichen Situation implizit gespielt, also mit einem gewissen „Rollenschutz" reproduziert, um als Inszenierung verarbeitet zu werden. Heute wirkt sich das bei den von mir betreuten und initiierten Unterrichtsvorhaben so aus, dass ich nicht perfekte Musiktitel, die die Schüler/innen von „außerhalb" im Ohr und in den Beinen haben, schulisch nachahme, sondern dass wir elementare musikalische Erlebnisse (Rhythmuskreis TaKeTiNa, Körper-Percussion, fließende Capoeira-Bewegungen, Phantasiereisen, Körperhaltungen zu Musik usw.) inszenieren, die musikalische „Basiserfahrungen" ermöglichen. Das ist eine Kurzform des Weges, den Volker Schütz von seiner Popmusikdidaktik, die heute von Dieter Lugert noch traditionsbewusst reproduziert wird, hin zur afrikanischen Musik gegangen ist: back to the roots.

Es gibt, wenn man die dialektische Beziehung von schulischer und außerschulischer Lebenswirklichkeit einigermaßen überzeugend dargestellt und die Details auch empirisch gesichert hat, nun zwei Fragen, die ich auch aus der „Impulsfrage" heraushöre:

(1) Welche theoretische Konsequenz ziehe ich als musikpädagogischer Forscher aus dieser Beziehung und

(2) wie muss man daraufhin einen Musikunterricht organisieren, in dem die Schüler/innen lernen, erfolgreich musikalisch tätig zu sein?

Meine grundsätzliche Aussage zu Frage (1) war, dass der schulische Lernprozess sich nicht qualitativ von demjenigen im außerschulischen Leben unterscheiden soll. Diese Aussage hat zu meiner Kritik des auf dem Kopf stehenden Melodie-, Harmonie- und Rhythmuslernens geführt, auf die Wilfried Gruhn mit seiner Lektion zur Audiation reagiert hat. Darf ich meine Grundidee nochmals an einem Beispiel, dem ich vor 3 Tagen anlässlich einer Lehrerfortbildung zur szenischen Interpretation von „Moses und Aron" an der Staatsoper Berlin begegnet bin, illustrieren? Ich hatte von einer Gruppe Musiklehrer/innen verlangt, die Melodie des Aron „Schließet die Augen..." nachzusingen. Die Musiklehrer/innen setzten sich sogleich ans Klavier und merkten bald, dass sie nicht in der Lage sind, diese Melodie so zu lernen, dass sie den Gesang später ins szenische Spiel hätten einbringen können. Ich regte darauf hin an zu versuchen, den Gestus der Melodie mit „falschen", d.h. ungefähren Tonhöhen nachzusingen. Nach Überwindung der Professionalisierungsängste klappte dies und machte sogar Spaß. Dann betrachteten wir die beiden ersten Intervalle - Halbton aufwärts, Halbton abwärts: a-b-gis – fügten diese Tonfolge in die analog gestaltete Melodie ein. Alle merkten, dass diese Abfolge (12-tontechnisch bedingt) in der Melodie ständig wiederkehrt. Abschließend trug die Gruppe die Aron-Melodie „analog" mit zahlreichen „digital-korrekten" Kleinmotiven vor. Die Tonbandaufnahme bewies, dass die Gruppe nach 16 Takten Zwölftonmelodie auf dem richtigen Endton gelandet war... und darüber hinaus stressfrei mit viel Spaß ohne Klavier die Melodie überzeugend dargeboten hat.

Ich behaupte nicht, dass die schulischen Lernprozesse ebenso diffus und ineffektiv, frustrierend, erfolglos und fremdbestimmt ablaufen sollten wie die außerschulischen es unter Umständen tun. Die schulischen Lernprozesse sollten durchaus bewusst inszeniert werden. Der Erfahrungsraum Schule ist etwas anderes als die musikalischen Erlebnisräume außerhalb der Schule. Und dennoch kritisierte ich, dass die Schule einfach alles auf den Kopf stellt nur, weil es einer musik-immanenten Systematik entspricht. Hier greift die Grundprämisse Nummer 1 vom Anfang: Sowohl die musikpsychologische als auch die musikpädagogische Forschung haben nicht „die Musik", sondern den musikalisch tätigen Menschen zum Gegenstand. Meine Kritik ist also immer dann zutreffend, wenn sich ein schulischer Lernprozess an der Musik und nicht am musikalisch tätigen Menschen orientiert. Mit den drei Bildern, die ich meinem Artikel hinzugefügt habe, wollte ich dies zum Ausdruck bringen. Das letzte Bild eines konzentriert, aber verkniffen am Xylophon sitzenden Kindes sollte als Gegenbeispiel dienen.

Zur Beantwortung der Frage (2) habe ich im Laufe der Jahre zahlreiche Modelle entwickelt, ausprobiert und auf den Markt gebracht. Ich denke nicht allein an das Gesamtkonzept der szenischen Interpretation von Musik, sondern auch an andere didaktische Verfahren, die stets das Ziel hatten, musikalische Tätigkeiten zum Gegenstand des Musikunterrichts zu machen. Darunter war in den frühen 70er-Jahren die Schriftenreihe des Arbeitskreises Demokratischer Musiker (deren Produkte erstmals mit „banjo" die Schwelle einer musikpädagogischen Subkultur überschritten), wo Lieder in ihrem Entstehungs- und Verwendungszusammenhang erarbeitet wurden. Wenn heute in Liederbücher Shanties, Bänkellieder, Cowboylieder, Friedenslieder, Blues, Reggae oder Nueva Canción vorkommen, so ist dies alles jenen ersten Unterrichtseinheiten zu verdanken, in denen aus politischen Gründen das Leben auf einem Segelschiff, in einer mittelalterlichen Stadt, im wilden Westen beim Rindertreiben etc. thematisiert – und zwar seinerzeit bereits szenisch interpretiert – wurde. Ebenfalls schon in „banjo" wurde der Versuch, „das Musikleben in unserer Stadt" zu besprechen, unternommen. Später kam die Produktion eines kommerziellen Rocktitels oder die West Side Story dazu. Das Grundprinzip blieb immer gleich. Soeben habe ich eine Erprobungsphase zu „Capoeira" in Grundschulklassen hinter mich gebracht. Ausgangspunkt, Roter Faden der 8-stündigen Einheit und öffentlich vorgeführtes Ergebnis war eine zunehmend ausdifferenzierte Szene aus einem Quilombo (einer Stadt entlaufener Sklaven in Brasilien), in dem Capoeira in vielerlei Funktion verwendet wurde. Die Tanz- oder Kampfsportschritte, die man unter der Bezeichnung „Capoeira" in Deutschland auf Workshops lernen kann, die musikalischen Patterns der (selbst gebauten) Berimbau oder die Liedtexte waren sekundärer Bestandteil von Ritualien, magischen Beschwörungen, gewaltfreiem Widerstand, Geschmeidigkeitstraining und kollektiver Erinnerung an verlorene kulturelle Zusammenhänge. Die korrekte Intonation der Lieder, die genaue Ausführung der Schritte oder die authentische Klangfarbengebung des Berimbaus waren sekundär und wurden von den Schüler/innen von selbst angestrebt, als die Motivation, die gesamte Szene öffentlich vorzuführen, entwickelt war.

Kurz gefasst lautet das Fazit für die konkrete Gestaltung von Musikunterricht: Zunächst wird der Entstehungs- und Verwendungszusammenhang von Musik konkret rekonstruiert, sodann wird im Hinblick auf eine möglichst befriedigende Aneignung am immanent-musikalischen Aspekt gearbeitet. Auch hier ist der Weg vom Ganzen zum Detail zu wählen und nicht umgekehrt. Die Unterrichtsinhalte können bei einer derartigen Vorgehensweise erstaunlich weit von denjenigen entfernt sein, mit denen die Schüler/innen außerhalb der Schule umgehen. Entscheidend ist, dass der Aneignungsprozess – trotz Inszenierung und organisierter Verarbeitung – demjenigen der außerschulischen Lebenswirklichkeit entspricht. Es muss nicht immer Popmusik sein. Ich habe auf dies Phänomen der „Anbiederung" immer wieder hingewiesen, beispielsweise in einem Artikel, den wahrscheinlich noch nie jemand gelesen hat: „Der JPBK 2000", sprich: „der jugendbewegte pädagogische Körper 2000". Ich habe stets dafür plädiert, den Schüler/innen anspruchsvolle und vollwertige Inhalte, die ihren Alltag transzendieren, anzubieten. „Klassische Musik" gehört heute kaum mehr zum Kanon solcher Inhalte, da sie durch Werbung, Handytöne, Filmmusik, Kaufhausmusik, easy-listening und U-Bahnhofbeschallung schon viel weiter herunter gekommen ist als es Richard Wagner mit seiner Utopie eines gesamtdeutschen Wallfahrtsortes oder Arnold Schönberg mit seinem Bonmot wahrhaben wollten: „in hundert Jahren werden die Leute meine Zwölftonmelodien auf den Gassen pfeifen". Ich bin der Meinung, dass der Musikunterricht heute einerseits tiefer reichen kann als es derzeit der Fall ist - siehe die bereits zitierten Basiserfahrungen der „eine welt musik lehre", 2000 -, sich andererseits kulturell weiter öffnen kann und muss, ohne sich in die Komplexität von Polyrhythmen, Vierteltönen oder des Joikens verlieren zu müssen - siehe meinen „erweiterten Schnittstellenansatz", 2003.


Erwähnte Literatur

Hartmut von Hentig: Schule als Erfahrungsraum? Klett, Stuttgart 1973.

Ingo Scheller: Erfahrungsbezogener Unterricht, Scriptor-Verlag, Königstein/Ts. 1981.

Wolfgang Martin Stroh: Leben Ja. Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Marohl-Verlag, Stuttgart 1984.

Ders.: Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenen Unterricht. In: Musikpädagogische Forschung, Band 6. Laaber-Verlag, Laaber 1985.

Ders.: Der JBPK 2000. In: Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik. Ein Fach im Umbruch, hg. Von Wulf Dieter Lugert und Volker Schütz. Metzler-Verlag, Stuttgart 1991.

Ders.: „Ich verstehe das, was ich will!" Handlungstheorien angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In: Musik und Bildung 3/1999.

Ders.: „eine welt musik lehre" Begründung und Problematisierung eines notwendigen Projekts. In: Musikpädagogische Forschung, Band 21. Die Blaue Eule, Essen 2000.

Ders.: HolocaustPädagogik + Interkulturelle Musikerziehung + Klezmermusik. Oldenburger VorDrucke 474. diz-Verlag, Oldenburg 2003.