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10 Thesen zur Psychologie Musikalischer Tätigkeit

1. Bezugsbegriff für Musikpädagogik ist nicht "die Musik", sondern der musikalisch tätige Mensch. Nicht aus einer Analyse von Musik, sondern aus einer Analyse der musikalischen Tätigkeit können Handlungsanleitungen deduziert werden.

Diese Aussage hat die Tätigkeitspsychologie mit anderen Handlungstheorien gemeinsam. Die Tätigkeitspsychologie bezieht sich auf Sergej Leonidowitsch Rubinstein, der in seinen "Grundlagen der Allgemeinen Psychologie" davon ausgeht, dass die "Psyche des Menschen nur durch die Tätigkeit des Subjekts erkennbar" ist (Rubinstein 1977, 39) und daher die Psychologie diese Tätigkeit zu analysieren habe. Die meisten handlungstheoretischen Konzepte können sich allerdings nicht zu solch einer klaren Gegenstandsbestimmung durchringen. Sie versuchen vielmehr "Musik" als Gegenstand der Musikpsychologie aufrecht zu erhalten und den "Musikbegriff" neu zu definieren.

2. Musikalische Tätigkeit hat Musik zum Inhalt ("Gegenstand"), sie kann - mit Worten Leontjews - musikalisch motiviert sein.

Die "Gegenständlichkeit" des Handelns ist ebenfalls ein durchgehendes Merkmal aller Handlungstheorien (Oerter 1993, 253-254). Die Verbindung mit dem Motiv ist aber eine Leontjew’sche Besonderheit. Wenn ein Gegenstand die Möglichkeit, eine Tätigkeit anzuregen und zu steuern, angenommen hat, ist er Motiv (Leontjew 1977, 81). Andere, zum Beispiel kommunikative Tätigkeiten, die nicht musikalisch motiviert sind, bei denen Musik aber als Rahmenbedingung eine Rolle spielt, sind keine im strengen Sinne musikalische Tätigkeiten.

3. Jede musikalische Tätigkeit hat ein Motiv und wird durch eine oder mehrere auf Musik gerichtete Handlungen realisiert. Diese Handlungen (und nicht die Tätigkeit) haben Ziele.

Die "Trennung von Ziel und Motiv" (von Handlung und Tätigkeit) vollzieht sich nach Leontjew mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins in der menschlichen "Entwicklung des Psychischen" (Leontjew 1985, 153-161).Die Handlungsziele sind den Handelnden entweder bewusst oder sie können ihnen durch geeignete Maßnahmen bewusst gemacht werden. Die Unterscheidung von Handlung und Tätigkeit sowie die Einführung des Motiv-Begriffs neben dem Begriff des Handlungsziels ist ein Spezifikum der Tätigkeitspsychologie. Diese Unterscheidung hat ganz erhebliche Konsequenzen für den handlungsorientierten Musikunterricht, wie die beiden Beispiele am Ende dieses Abschnittes zeigen sollen.

4. Motive "erscheinen" zwar in den die Tätigkeit realisierenden Handlungen, sie sind aber weder bewusst noch sichtbar oder erfragbar.

Man kann Motive nur detektivisch aus "Indizien" erschließen. Solche Indizien sind die sichtbaren Handlungen. Letztendlich ist der Motiv-Begriff ein Konstrukt. Der tätigkeitspsychologische Motivbegriff ist im Gegensatz zur Auffassung anderer Motivationstheorien niemals ohne Tätigkeit denkbar. Ein abstraktes "Leistungsmotiv" ohne konkrete Tätigkeit (d.h. einen Inhalt) gibt es nicht. Alles, was Helga de la Motte-Haber in Band 4 des Handbuches Musikpädagogik (1987) enzyklopädisch zum Thema Motivation zusammengetragen hat, wäre aus tätigkeitspsychologischer Sicht nochmals inhaltlich neu zu interpretieren.

5. Eine einzelne musikbezogene Handlung (z.B. Singen eines Liedes) kann unterschiedliche Tätigkeiten realisieren und daher auch unterschiedlich motiviert sein. Umgekehrt kann dasselbe Motiv zu ganz unterschiedlichen Handlungen mit unterschiedlichen Zielen führen.

Zwischen Tätigkeitsmotiven und Handlungszielen besteht also kein kausallogischer Zusammenhang. Diese Polyvalenz von Ziel und Motiv macht die Dynamik von Tätigkeit aus. Wenn es diese Vieldeutigkeit nicht gäbe, wäre die Motiv-Suche eine einfache Angelegenheit.

6. Tätigkeit ist Aneignung von Wirklichkeit. Musikalische Tätigkeit ist Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln. Da die die Tätigkeit realisierenden Handlungen die Wirklichkeit verändern, ist diese Aneignung dialektisch verbunden mit einer Vergegenständlichung.

Jede Tätigkeit verändert die Umwelt ("Vergegenständlichung") und den tätigen Menschen ("Aneignung"). Diese philosophische Kernaussage der Tätigkeitpsychologie bedeutet unter anderem: (1) Musikalische Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess; in der Kommunikation verändert das "Senden" einer Nachricht die Realität inclusive Empfänger. (2) Durch die Tätigkeit ändern sich auch die Motive. Dies ist ein Prozess der für Musiklernen ganz fundamental ist. "Die Lust kommt mit dem Musizieren" heißt dieser Vorgang umgangssprachlich. (3) "Musikmachen" als ein prototypischer Vorgang von "Vergegenständlichung" ist mehr als ein Erwerb von musikalischen Fertigkeiten, er ist Teil einer umfassenderen Aneignung von Wirklichkeit (Jugendkultur, Geschichte, soziale Gruppensituation usw.).

7. Bewusstsein ist die Fähigkeit, Handlungsziele zu setzen, Handlungen zu planen und zu überprüfen, inwieweit Ziele erreicht wurden. Dies kann explizit geschehen oder über den Mechanismus der Bedürfnisbefriedigung.

Aus der Dynamik der Tätigkeit (Aussage 6) und der Polyvalenz (Aussage 5) folgt, dass sich Bewusstsein aus der Tätigkeit herausbildet und zugleich die die Tätigkeit realisierenden Handlungen steuert. Für Leontjew sind bewusste Handlungen typisch menschlich (Leontjew 1985, 153-161). Das vielzitierte Beispiel Karl Marx’ vom Unterschied zwischen der Biene, die eine wunderschöne Wabe baut, und dem Architekten, der Schönheit bewusst plant, ist auf Musik übertragbar. Während eine Nachtigall die Ziele ihres Schöngesanges nicht frei wählen oder verändern kann, kann eine Opernsängerin ihre Singhandlungen gezielt einsetzen und Handlungsstrategien bewusst gestalten. - Dieser Gedankengang ist nicht unumstritten. Zum einen gibt es Tiere, die offensichtlich Handlungsziele verändern können. Zum andern kennt der graue Opernalltag (pars pro toto) viele Fälle, in denen ein Mensch eher tierisch als typisch menschlich tätig sein muss, d.h. keinerlei Verfügungsgewalt über seine Handlungsziele hat und sich im Laufe des Lebens auch gar nicht mehr vorstellen kann, wie so etwas sein könnte.

8. Aus Bedürfnissen heraus können Tätigkeitsmotive entwickelt werden, die dann zu Handlungen führen. Wie die Motive, so können sich auch Bedürfnisse durch die Tätigkeit (die dann als Bedürfnisbefriedigung interpretiert werden kann) weiterentwickeln.

Zwischen Handlungszielen und den Bedürfnissen, aus denen die Tätigkeitsmotive entstanden sind, besteht kein kaussallogischer Zusammenhang. Musikalische Motive können zu nicht-musikalischen Handlungen führen und musikalische Handlungen können nicht-musikalische Motive realisieren. Am bekanntesten ist der letzte Fall. Er liegt immer dann vor, wenn aufgrund musikfremder Motive musiziert wird: sei’s aus Gründen der puren Geselligkeit, des "Geldmotivs" oder aus selbsttherapeutischen Gründen.

Dass Bedürfnisse sich durch die Befriedigung von Bedürfnissen weiter entwickeln, dass Befriedigung also keine Beseitigung, sondern eine Veränderung von Bedürfnissen ist, gehört heute zum Alltagswissen. Kein Mitglied unserer Konsumspiralen-Gesellschaft wird leugnen, dass Bedürfnisbefriedigung zu neuen Bedürfnissen führt - nicht nur aufgrund von Werbung und Manipulation, sondern auch wegen der dynamischen Dialektik menschlicher Tätigkeit. Die Karl Marx’sche Aussage von der Bedürfnisspirale war nicht moralisch oder kritisch formuliert, sie war eine nackte Feststellung. Ihre Ursache übrigens sieht Karl Marx im "Wesen des Kapitals", das sich ständig vermehren muss, wenn der Kapitalismus nicht zusammenbrechen soll. Auch diese Aussage gilt heute in allen ökonomischen Theorien als Gemeinplatz.

9. Musiklernen ist die Herausbildung der Fähigkeit, selbstbestimmt und selbstbewusst musikalisch tätig sein zu können. Musikalität ist die Fähigkeit, erfolgreich musikalisch tätig zu sein.

"Erfolgreich" bezieht sich stets auf die individuellen und sozialen Bedürfnisse des Einzelnen. Zu "Fähigkeit" gehört also nicht nur, dass ein Individuum durch eine Handlung ein Handlungsziel erreichen, sondern auch, dass es aus seinen Motiven heraus die geeigneten Handlungsziele überhaupt entwickeln kann. Dieser zweite Aspekt ist gerade bei musikalischen Tätigkeiten nicht einfach und führt zu mehr Problemen als der erste. Mit der Frage, wie musikalische Ziele - durch Fingerübungen, durch mentales Training, durch Notenanalyse etc. - handelnd erreicht werden können, beschäftigen sich 90% der Musikpädagogik. Die Frage, welche musikalischen Zielsetzungen aber gewisse Motive zu realisieren imstande sind, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Daher wissen Menschen, die musikalisch motiviert sind, sehr oft nicht, was sie konkret tun sollen: ein Instrument erlernen, eine CD kaufen, sich mit einem Musiker befreunden, eine Reise nach Salzburg unternehmen usw. Auch mit ihrem Musikalitätskonzept geht die Tätigkeitpsychologie weit über andere Handlungstheorien hinaus. Letztere klammern das Musikalitätsproblem entweder ganz aus oder übernehmen Musikalitätstheorien anderer Provenienz.

10. Musikalische Bildung ist die Entwicklung der Persönlichkeit durch musikalische Tätigkeit. Die Bedeutung von Musikunterricht im Rahmen einer staatlichen Schule ist im Wesentlichen musikalische Bildung.

Es überrascht vielleicht, dass die Tätigkeitpsychologie überhaupt einen "Bildungsbegriff" hat. Dies liegt daran, dass sich durch Tätigkeit (und nur durch Tätigkeit!) die Persönlichkeit des Menschen "bildet". Das tätigkeitspsychologische Persönlichkeitskonzept spielte in der DDR mit dem Leitziel der "allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" eine derart große Rolle, dass westdeutsche Lerntheorien in dieser Hinsicht sehr vorsichtig gewesen sind. Dabei ist der resultierende Bildungsbegriff gemessen an Äußerungen der westlichen Bundesschulmusikwochen sehr profan. Von "handlungstheoretisch fundierter Persönlichkeitspsychologie", wie sie Christian Harnischmacher vorgeschlagen hat (Harnischmacher 1994), unterscheidet sich das tätigkeitspsychologische Konzept durch relativ globale und eher philosophische Herangehensweise.

Eine wichtige Konsequenz im Hinblick auf Konzepte, die das Musikmachen zu verabsolutieren scheinen, ist, dass Musiklernen im Sinne der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten bei diesem Bildungsbegriff nicht vorrangig ist. Zwar lässt sich bei dieserart musikalischer Bildung - gottlob! - die Herausbildung von Fähigkeiten und somit "Musikalität" nicht vermeiden. Das Ziel von Unterricht ist jedoch die Persönlichkeits- und nicht die Fertigkeitsentwicklung.

Wolfgang Martin Stroh (1984): Leben Ja. Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Marohl Verlag Stuttgart. Kostenloser Download des Buches.
Quelle der vorliegenden Thesen: "Ich verstehe das, was ich will!" - Handlungstheorien angesichts des Musikpädagogischen Paradigmenwechsels (1999)