Das Oldenburger Klezmer-Projekt (seit 1997)

Ent-ritualisierte Holocaustpädagogik

"Holocaust Education" ist die (umstrittene, aber eben doch gängige) Bezeichnung der "Erziehung nach Ausschwitz", wie sie Theodor W. Adorno gefordert hat: deutsche Jugendliche sollen "aus der Geschichte lernen" - vor allem natürlich sollen sie gegenüber Antisemitismus imprägniert werden. Zu den klassischen Methoden der Holocaustpädagogik heißt es bei Wikipedia: "Zu den in der Holocaust Education angewandten Konzepten gehören klassischerweise Gespräche mit Zeitzeugen... Eine ebenfalls wichtige Rolle nehmen Besuche von Gedenkstätten ein."
Der im Folgenden dargestellte Ansatz enthält eine konstruktive Kritik an diesen Methoden und damit auch an der aktuellen Holocaustpädagogik, die ich als "ritualisiert" bezeichne. Daher nenne ich meinen Ansatz "ent-ritualisierte" Holocaustpädagogik.

Was heißt "ent-ritualisiert"?

Unser Umgang mit dem Holocaust und allem rund um Juden und Judentum, einschließlich Israel und Palästina, ist in hohem Maße ritualisiert und muss unbedingt ent-ritualisiert werden. Vorgänge wie die vom Mai 2021, als aus Gaza Raketen auf Israel geflogen sind und Israel als Reaktion Bomben auf Gaza abgeworfen hat, sind inzwischen ein tötliches Ritual geworden. Aber auch die Antisemitismus-Debatte rund um die documenta 15 muss als ein Ritual dechiffriert werden. (Siehe dazu meinen Brief an die taz!) Der Weimarer Professor für Geschichte Jüdischer Musik Jasha Nemtsov definiert "ritualisiertes Denken" folgendermaßen: „Das ritualisierte Denken bedeutet Wiederholen von starren Formeln, die keinen Bezug zur Realität aufweisen“. Auch unsere Wahrnehmung (vor allem die der gewinn- und aufmerksamkeitsorientierten Medien) ist ritualisiert. Im Falle der documenta 15 wird von den Medien nicht mehr die Ausstellung selbst (die „Realität“) wahrgenommen, sondern nur noch die „starre Formel“ vom Documenta-Skandal variiert.
Jeder spürt im Innersten seines Herzens: so kann das nicht bis in alle Ewigkeit weiter gehen! Aber, wie kann eine „Ent-Ritualisierung“ aussehen?

Diese Formulierung habe ich 2022 in zwei Vorträgen gewählt. Sie war zwar primär auf den Nahostkonflikt bezogen, gilt aber auch für Deutschland und die aktuelle Antisemitismus-Debatte. Eine Kurzform dieser Vorträge sind auf Yotube zu finden. Der komplette Vortrag ist als pdf-Download hier.

In den Wochen nach dem 7. Oktober 2023 hat sich das "tötliche Ritual" zu einem bisher kaum erahnten Höhepunkt aufgeschaukelt. Dies gilt nicht nur in Israel und in Gaza, dies gilt nicht nur in der internationalen Diplomatie, dies gilt auch für die deutsche Öffentlichkeit bis hinein in die Schulen.

Der Terminus "Ritual" ist angesichts des unvorstellbaren Überfalls der Hamas auf israelische Bürger*innen (ob Juden, Muslime oder Christen) sehr verharmlosend. Die Reaktion der israelischen Regierung angesichts des Überfalls der Hamas zeigt jedoch, dass hier ritualisiertes Handeln ausschlaggebender ist als die Frage, welche Zunkuft die ganze Region eigentlich hat.

Ähnlich ritualisiert scheint der inflationäre Gebrauch des Begriffs 'Antisemitismus' in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 zu sein. Und ebenso reflexartig ("ritualisiert") werden die Lehrer*innen an deutschen Schulen aufgefordert, effektivere Holocaust-Pädagogik zu betreiben, um ebendiesem Antisemitismus Einhalt zu gebieten.

Ein Beispiel für Ent-ritualisierung, wie ich sie verstehe, zeigt die israelische Sängering Achinoam Nini ("Noa"), die zusammen mit der israelisch-palästinensischen Sängerin Mira Awad mit ihrem Eurovisions-Song "There must be another Way" am 20.12.2023 in der Berliner Philharmonie aufgetreten ist. Noa spricht am 10. Oktober 2023 in einem Selfi-Video von ihrer "Schockstarre" nach dem Hamas-Überfall, um abschließend auf die Botschaft ihrer langjährigen politischen Arbeit zur Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern zurück zu kehren. Sie benutzt dabei explizit und bewusst einen Slogan, der momentan in Deutschland als "antisemitisch" und das Existenzrecht Israel leugnend und damit gegen die deutsche Staatsräson verstoßend verboten und strafbar ist: "From the River to Sea" sollte, so Noa, ein ("multikulturelles") Volk mit gleichen Rechten leben können und dürfen:

Zum Selfi-Video Noas: Youtubevideo öffnen.

Zum deutschen Holocaust-Gedenktag am 27.1.2024 sagt Mirna Funk (die Autorin des Buches "Von Juden lernen"):

"Mein Punkt ist, dass beim, auch staatsoffiziellen, Sprechen über den Holocaust immer nur von uns Juden als Opfern gesprochen wird. Man findet zum Pathos, zum "Nie wieder" und so weiter und so fort. Aber es gibt doch jüdisches, sehr lebendiges Leben nicht allein in Israel, sondern hier, in Deutschland und anderswo. Es braucht den Holocaust nicht, um uns zu schützen zu wollen.
Ich wünsche mir ein genuines Interesse am realen Leben von Jüdinnen und Juden. Wie wir fühlen, wie wir leben, wie wir sind - unabhängig von all den Zuschreibungen im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte. Ich wünsche mir, dass Juden eines Tages nur für sich existieren dürfen, ohne als Projektsfläche für was auch immer herhalten zu müssen. Ohne Mahnmal oder Erklärbär."
(wochentaz 20.-26.1.2024, S. 31)

Zur gegenwärtigen Situation der Holocaustpädagogik

Lesen Sie zur Einführung den Artikel "Zur gegenwärtigen Situation der Holocaustpädagogik" (kostenloser Download), der aus verschiedenen Vorträgen der Jahre 2002 bis 2005 exzerpiert ist und meines Erachtens 2023 aktueller denn je ist, denn die aktuelle bundesdeutsche Diskussion um Antisemitismus zeigt, dass das alte holocaustpädagogische Denken bei deutschen Juden, maßgebenden Politiker/innen und den Medien noch immer präsent ist.

Die wichtigsten Punkte des Artikels:

Zur Geschichte der deutschen Holcauspädagogik:

  1. Vergangenheitsbewältigung,
  2. Betroffenheitspädagogik,
  3. Erinnerungsarbeit,
  4. antifaschistische Erziehung.

Das Scheitern der bisherigen Konzepte ist am anhaltenden Antisemitismus (den ja die deutschen Juden selbst beklagen) zu erkennen. Daher wird ein neues Konzept diskutiert, das folgenden Bestandteile aufweist::

  • Empathie statt Betroffenheit,
  • Emotionen in der Einfühlung,
  • Lernen und Handeln im “Schutz der Rolle”,
  • Produktive Auseinandersetzung mit Zeitzeugen, Spuren, Denkmälern usw.,
  • Praktizierte Demokratie und Toleranz im Lernprozess.

Der Beitrag des Musikunterrichts zur Holocaustpädagogik:

Der inhaltlicher Focus der Holocaustpädagogik verschiebt sich weg von Zahlen und Fakten, weg von Statistiken und „Horrorfilmen“ und Denkmalsbesuchen hin zum „wirklichen Leben“ und den zunächst auch alltäglichen Gefühlen der Menschen. Statt „die Juden“ den deutschen Jugendlichen in der Schule in Extremsituationen vorzuführen und sie dadurch jeglicher Konkretheit zu berauben, sollten Juden zuerst einmal im normalen Leben als „Menschen wie Du und Ich“ erscheinen. Als Menschen mit lebensnahen Gefühen, mit Wünschen, Hoffnungen, Problemen, Sorgen und Fehlern. Hier liegt die Chance für Musik. Und hier ist die Chance für jene Klezmermusik, die die vielfältigen und widersprüchlichen Gefühlen des jüdischen Lebens klingend zum Ausdruck bringt.
Die beste Methode der pädagogischen Vermittlung von Klezmermusik, die auch in der interkulturellen Musikerziehung nachgefragt ist, ist die „szenische Interpretation“ von Musik. Hier finden Empathie, Rolleneinfühlung, ein Schutz der Rolle, die produktive Auseinandersetzung mit Inhalten und eine notwendig tolerante Arbeitshaltung statt. Die spezifischen Möglichkeiten eines derartigen Musikunterrichts sind

  • Empathie erzeugen als Verständnis ohne oktroyierte Gefühle oder Betroffenheit,
  • Musik als Teil einer widersprüchlichen Lebensrealität erfahren,
  • Musik machen (als Erlebnis) und Musik reflektieren (zu Erfahrung) in einem einheitlichen, sinnlichen Prozess.

Bemerkung: diese "aktuelle Konzept" habe ich seit 2002 theoretisch und praktisch entwickelt. In Vorträgen (u.a. vor jüdischen Kollegen aus den USA und Israel) bin ich auf großen Widerstand gestoßen. Die Geschichte hat mir aber Recht gegeben. Denn heute (2023) wird in der deutschen Antisemitismus-Debatte zunehmend erkannt, dass das "jüdische Leben in Deutschland" Jugendlichen nahe gebracht werden soll. Mit anderen Worten: statt Ausschwitzbesuchen sollte eine deutsche Synagoge oder aber auch ein Konzert der jüdischen Community besucht werden!

Weitere einschlägige Varianten dieses Artikels finden Sie unter den Klezmer-Downloads (hier).

"Tatort Bergen Belsen am 26. April 2015" - ein Beispiel ritualisierter Holocaustpädagogik

Hier ein Artikel geschrieben anlässlich der Gedenkfeiern in Bergen Belsen am 12. April 2015.

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreieung von Bergen Belsen unter dem Asopekte der "Ritualisierung" ist hier als pdf-Download zu finden.
Dazu als Dokumente das Programmheft der Veranstaltung: Teil 1 und Teil 2.