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Kalter Krieg: BRD gegen DDR - "Avantgarde" gegen "Sozialistischen Realismus"

 

Musikpolitik der UdSSR Musikpolitik in der DDR Musikpolitik in der BRD
Musikpolitik in Polen   Klassische Musik   Die Konservativen
Musikpolitik in China   Neue Kunstmusik:

sozialistscher Realismus

  Die experimentelle Avantgarde:

seriell, aleatorisch, offen

esoterisch, ethnisch, elektronisch

Musikpolitik Kommunistischer Parteien im Westen   Polit. Lied, Rock, Jazz:

offiziell

subkulturell

  Die Linken:

"Revisionisten" (DDR als Vorbild)

"Undogmatische"

 

1925 Alexander Mossolow: Sawod (Die Fabrik) 1924 Honnegger: Pacific 231.
1934 Shdanow: "sozialistischer Realismus"  
  1946 1. Kranichsteiner (Darmstädter) Ferienkurs
1947 Prozess gegen Eisler in den USA

19.-25.4.1948: Gesamt-Sowjetischer Komponisten-Kogreß "Die neue Ordnung" (Shdanow)

1948 Adorno: Philosophie der Neuen Musik,

1948 Eisler New York Ò Wien

1949 Eisler nach Berlin

7.10.1949: DDR - Nationalhymne Becher/Eisler

20.6.1948 Währungsreform der Westzonen

 

8.5.1949: BRD

1949 Messiaen: Mode de Valeurs...

1949 Adorno zurück nach Frankfurt

1951 ZK-Beschluss: "Der Kampf gegen Formalismus in Kunst und Literatur"

1951 Kritik an Brecht-Dessaus Lukullus

1951 Eisler Brief nach Westdeutschland

1950 Meyer-Epplers Vorträge

1951 Verstärkt Zwölftonkurse in Darmstadt

1952 Briefwechsel Heuss-Adenauer zur Nationalhymne der BRD

1953 Ulbricht 27.5.: "Eislers Faust verunstaltet Goethe formalistisch". Stalins Tod. "17. Juni". 1953 "Webern-Entdeckung" in Darmstadt

1953 Studio für elektronische Musik in Köln (Eimert)

1954 Lukács-Bloch-Diskussion in der DDR  
1956 4. Schriftstellerkongress: Hans Mayer, Harich-Gruppe, Brechts Thesen, Anna Seghers. Brecht stirbt.

1956 Erster "Warschauer Herbst"

1956 Ungarn-Aufstand

1956 Adorno: "Gegängelte Musik" (Anlass: 2. Internationaler Kongress der Komponisten und Musikkritker" in Prag)

1956 Ligeti trifft in Köln ein

  1956 Nono: Il Canto sospeso (Kompositionsauftrag des WDR Köln)

1957: Boulez’ Aufsatz "Alea"

1959 "Bitterfelder Weg" (Parteilichkeit nach Stalin)

1959 Pendereckis Strophen auf Warschauer Herbst

1959 Nonos Vortrag in Darmstadt: Kritik an Cage, Aleatorik und Formalismus
1961 Berliner Mauer

1962/63 Kuba-Krise

1960 Darmstädter Kontroverse Stockhausen-Nono

1960 Penderecki: Anaklasis (UA Donaeuschingen)

1961 Ligeti: Atmoshpères (UA Donaueschingen)

1962 Debüt Biermanns in Berlin

1962 6. SED-Parteitag: Ende einer einheitlichen deutschen Kultur

1962 Eisler stirbt

 
1964 Zweite Bitterfelder Konferenz  
1965 ZK-Kritik an Biermann 1965 Biermann und Neuss
1968 Matthus Violinkonzert (UA Kurt Masur)

1968 Prager Frühling

9.12.1968 Henze: Das Floß der Medusa
  1969 Adorno stirbt
   
1976 Ausbürgerung Biermanns  
1983 Hannes Zerbe Blechband in Bremen 1982 Dinescu lässt sich in Deutschland nieder
1989 Kurt Masur in Leipzig  

 

Tonbeispiele

Luigi Nono: Il Canto Sospeso (1956). II. Chor a capella. Kompositionsauftrag des WDR Köln. UA 24.10.1956 Köln. Siehe hierzu die "Darmstädter Kontroverse Nono-Stockhausen"!

Siegfried Matthus: Konzert für Violine und Orcehster (1968), 3. Satz. Manfred Scherzer (Violine), Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin (DDR), Leitung Gert Bahner (4/1971). CD-Serie: Musik in der DDR II. Das Stück galt als mustergültiges Werk des sozialistischen Realismus.

György Ligeti: Atmosphères für großes Orchester (1961). In Memoriam Mátyás Seiber. UA SWF-Orchester, Leitung Hans Rosbaud. Donaueschinger Musiktage, 22.10.1961. Radiomitschnitt. Beginn der "Klangfarbenkompposition" in der Avantgarde (elektronische Erfahrungen aufs Orchester übertragen).

Wolf Biermann: "Soldaten-Melodie". Wolfgang Neuss: "Frische Luft-Nummer". LP Wolf Biermann zu Gast bei Wolfgang Neuss. Live im Gesellschaftshaus am Zoo Frankfurt/Main, 19.4.1965. Die "Soldatenmelodie" ist Aufhänger der ersten Biermann-Kritik durch das ZK der SED 1965.

Violeta Dinescu: Echoes I (1982). Fassung für Bass-Klarinette, Klavier und Percussion (Trio Contraste). Aus: CD "Mein Heim ein Stein". Das Stück verwendet "mathematisch errechnete" Modi und ist inspiriert durch die rumänische "Doina" (volkstümliche Improvisationsform).

Hannes Zerbe Blechband: Improvisationen über ein Thema von Alexander Mossolow ("Sawod", ca. 1925). Das futuristische Stück "Sawod" war unter Shdanow als "formalistisch" verpönt. Aufführung in Bremen 28.5.1983. Privater Konzertmitschnitt.


 Hintergrundstexte zum "Kalten Krieg"

Shdanow auf dem 1. Unionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 (In: A. A. Shdanow: Ausgewählte Reden, hg. Kulturgruppe Shdanow, Westberlin 1972)

Wir sagen, dass der sozialistische Realismus die grundlegende Methode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik ist. Genosse Stalin hat unsere Schriftsteller die Ingenieure der menschlichen Seele genannt. Was heißt das? Erstens, das Leben kennen, um es in den künstlerischen Werken wahrheitsgetreu darstellen zu können... dabei muß die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen. ...ja, unsere Sowjetliteratur ist tendenziös. Die Sowjetliteratur muß verstehen, unsere Helden zu gestalten, sie muß verstehen, einen Blick in unsere Zukunft zu werfen. Das wird keine Utopie sein, denn unsere Zukunft wir durch planmäßige bewußte Arbeit schon heute vorbereitet.

 

Shdanow 1948 (nach Boris Schwarz: Musik und Musikleben in der Sowjetunion. Englisch 1970. Deutsch 1982 bei Heinrichshofen’s.)

Formalismus ist die Verherrlichung der Atonalität, der Dissonanz, und der Disharmonie, die Ablehnung der Melodie ist die Hingabe an verworrene, neuropathische Kombinationen, welche die Musik in eine chaotische Anhäufung von Tönen verwandelt. Diese Musik spiegelt den Zerfall der bourgeoisen Kultur und eine völlige Verleugnung der musikalischen Kunst.

 

Prieberg, Musik in der Sowjetunion. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1965, S. 112-113

Es handelt sich um eine gegen das Individuum gerichtete Doktrin, gegen das Prinzip einer Kunst um der Kunst willen, gegen die Zweckfreiheit der Künstlerischen Äußerung, Ausläufer des romantischen Bemühens, die große Masse mit hoher Kunst zu beschenken, sie dadurch zu zivilisieren, zu erheben, womit natürlich ein Abstieg der Sprache auf das Niveau des Jargons verbunden war. Kunst sollte schon damals den gesellschaftlichen Interessen dienen - und aus dem gesellschaftlichen Interesse wurde bei Stalin das Parteiinteresse.. Stalin verkündete nicht mehr und nicht weniger als das Ende der absoluten Musik in der UdSSR, das ging weit über das hinaus, was Lenin gesagt hatte. Lenins Forderungen bezogen sich auf die Volkstümlichkeit. Dagegen wünschte Stalin eine neue Romantik, die des sozialistischen Aufbaus, auf dem Volkslied aus zweiter Hand beruhend, Hymnus an den neuen Menschen, tönender Katechismus der kommunistischen Moral.

 

Brecht: Über Formalismus und neue Formen. In: Bertolt Brecht. Über Realismus, hg. von Werner Hecht. Surhkamp, Ffm. 1971, S. 156 (= SV 485)

Der Leerlauf der Literatur in der spätkapitalistischen Epoche zeigt sich bekanntlich darin, daß ihre Dichter unablässig versuchen, den alten bürgerlichen Inhalten durch verzweifeltes Umformen neue Reize abzugewinnen. So tritt eine eigentümliche Verfallserscheinung auf, nämlich die Trennung von Form und Inhalt, indem die Form, welche neu, sich vom Inhalt, welcher alt ist, absetzt. ... Es ist Kunst nötig, damit das politisch Richtige zum menschlich Exemplarischen werde.

 

Eisler: Brief nach Westdeutschland 1951. In: Hanns Eisler: Materialien zu einer Dialektik der Musik, hg. von Manfred Grabs. Reclam, Leipzig 1973, S. 211-223

Ist Musik für Menschen da, muß sie als nützliche Tätigkeit geachtet und bewertet und nicht zu bloßer Spielerei oder zu Privatspaß degradiert werden.

Wir müssen folgende Fragen des Publikums Ernst nehmen: "Warum diese Kompliziertheit, wollt Ihr uns gelehrt kommen?" "Warum diese Kälte, diese Hochmütigkeit?" "Wen wollt Ihr ausdrücken, euch selbst oder uns?" - Wir müssen aber einiges zu bedenken geben: (1) Es besteht die Gefahr, dass die richtige Forderung nach Melodie, wenn sie gedankenlos zum einzigen Kriterium aller Genres der Musik wird, die Komponisten immer wieder in durch zu häufigen Gebrauch Abgenutztes zurückverweist. (2) Beschwert sich der unerfahrene Hörer über Schwerverständlichkeit, muß ihm zu bedenken gegeben werden, daß es in den Konzertsälen anders zugeht als in der angewandten Musik. (3) Unser Streben nach Volkstümlichkeit wird oft mißverstanden. ...Arbeiter sind nicht naiv, lernen rasch, haben eigentümliche Sitten... Neue Volkstümlichkeit ist ein Umschlag des Neuen in das Einfache. Diese Volkstümlichkeit wird sich vorerst auf dem Gebiet der angewandten Musik entwickeln.

Komponisten und Hörer müssen voneinander lernen. Der Komponist darf an Kunstfragen nicht abstrakt herangehen, sondern muß endlich begreifen, daß die Anwendung bestimmter Techniken vom Inhalt abhängt.

 

Brecht: Zum sozialistischen Realismus 1954 (SV 485, S. 165-166)

Realistische Kunst ist kämpferische Kunst. Realistische Künstler betonen das Moment des Werdens und Vergehens. Sie denken in allen ihren Werken historisch. ... stellen die Widersprüche in den Menschen und ihren Verhältnissen zueinander dar.... sind interessiert an den Veränderungen in den Menschen. ... stellen die Macht der Ideen dar und die materielle Grundlage der Ideen. ... sind human, d.h. menschenfreundlich. ... haben nicht nur eine realistische Einstellung zu ihren Themen, sondern auch zu ihrem Publikum. ... berücksichtigen Bildungsgrad und Klassenzugehörigkeit ihres Publikums.... behandeln die Realität vom Standpunkt der werktätigen Bevölkerung aus.

 

Brecht: Notizen zur Rede auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß 1956 (SV 485, 172)

Die Trennung Deutschlands ist eine Trennung zwischen dem Alten und dem Neuen... aber überall kämpft das Neue mit dem Alten, der Sozialismus mit dem Kapitalismus. Wir haben das günstigere Kampfgelände, aber wir sind nicht fertig mit dem Kampf. ... Wenn wir uns die neue Welt künstlerisch praktisch aneignen wollen, müssen wir neue Kunstmittel schaffen und die alten umbauen. Die Kunstmittel Kleists, Goethes, Schillers müssen heute studiert werde, sie reichen aber nicht mehr aus, wenn wir das Neue darstellen wollen. Den unaufhörlichen Experimenten der revolutionären Partei, die unser Land umgestalten und neu gestalten, müssen Experimente der Kunst entsprechen, kühn wie diese und notwendig wie diese. Experimente ablehnen, heißt, sich mit dem Erreichten begnügen, das heißt zurückbleiben.

 

Anna Seghers 1956 auf demselben Kongress. In: Autorenkollektiv Frankfurt: Probleme sozialistischer Kulturpolitik. Fischerverlag, Ffm. 1974, S. 211

Der Vorwurf, Künstler haben die dunklen und negativen Teile der Wirklichkeit allzu betont auf Kosten des Hellen und Zukunftsvollen ist richtig, wenn ihnen die Entwicklungslinie verloren ging, und sie es nicht verstanden haben, diese durch alle Widersprüche hindurch klarzumachen. Aber der Vorwurf ist falsch, wenn ein Künstler die Widersprüche gezeigt hat, damit sie überwunden werden. Wir tu n gerade unseren besten Menschen einen schlechten Dienst, wenn wir ihre Lebensarbeit leicht wie ein Kinderspiel darstellen durch Verschweigen aller inneren und äußeren Konflikte".

 

Peter Bürger: Die Debatte zwischen Adorno und Lucács. In: Theorie der Avantgarde. Surhkamp, Ffm. 1974 (SV 727, 117-121):

Der Gegensatz von organischem und avantgardistischem Kunstwerk liegt sowohl der Avantgardetheorie von Lukács als auch der von Adorno zugrunde. Während Lukács am organischen (in seiner Terminologie: realistischen) Kunstwerk als ästhetischer Norm festhält und von dieser aus avantgardistische Kunstwerke als dekadent ablehnt, erhebt Adorno das avantgardistische, nicht-organische Werk zu einer, allerdings nur historischen, Norm und verurteilt von hier aus alle Bemühungen um eine im Sinne von Lukács realistische Kunst der Gegenwart als ästhetischen Rückschritt.

Die Hegelsche Gegenüberstellung von klassischer und romantischer Kunst kehrt bei Lukács wieder als Gegensatz von realistischer und avantgardistischer Kunst. ...Lukács überträgt als die Hegelsche Kritik an der romantischen Kunst als einer geschichtlich notwendigen Verfallserscheinung auf die Kunst der Avantgarde...

Adorno ist in diesem Punkt radikaler; ihm gilt das avantgardistische Werk als der einzig mögliche authentische Ausdruck des heutigen Weltzustandes. Auch Adorno geht von Hegel aus... das avantgardistische Kunstwerk erscheint in dieser Sicht als historisch notwendiger Ausdruck der Entfremdung in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Auch für Lukács ist die Avantgarde Ausdruck der Entfremdung in der spätkapitalistischen Gesellschaft, d.h. aber für den Sozialisten zugleich Ausdruck der Blindheit der bürgerlichen Intellektuellen gegenüber den realen geschichtlichen Gegenkräften, die auf eine sozialistische Umgestaltung dieser Gesellschaft hinarbeiten.

 

Adorno: Gegängelte Musik. In: Dissonanzen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1956, S. 46-59

Das Auseinandertreten von musikalischer Produktion und Publikum ist keine "Schuld" der Komponisten, welche diese abzubüßen hätten. Die Gründe liegen bei der gesellschaftlichen Totalität; weder beim Publikum, das sich der Arbeitsteilung nicht erwehren kann, noch bei denen, die, wie immer ohnmächtig, dem Druck der Verhältnisse widerstehen.

Daß auch die im Osten denunzierte avantgardistische Musik bis heute die ästhetischen Widersprüche auf höherer Ebene erneut hervorbringt und abermals etwas von jenem mechanischen und verdinglichten Wesen zeitigt, das der traditionellen Musiksprache eignet, ist fraglos. Das rechtfertigt aber nicht, Musik auf dem Verordnungsweg auf das frühere, krudere Niveau zurückzuschrauben.

Der Kongreß ruft die Komponisten dazu auf, Musik zu schaffen, welche das beste Handwerk, originelle und hohe Qualität mit echter Volkstümlichkeit verbindet.

Wie wenn das durchs bloße Dekret sich durchsetzen ließe, was seit hundert Jahren den fähigsten und verantwortungsvollsten Künstlern sich versagt... Wenn die Proklamation mit planender Geste der Vokalmusik eine Art von Priorität zuspricht, so geht es ihr dabei nicht um die Überwindung irgendwelcher abgründiger Unstimmigkeiten der Musik, sondern um den Gedanken an die propagandistische Wirkung, der etwa im Begriff des Massenchores sich anzeigt.

Denn es war Aufgabe der Kunst, seit es überhaupt eine entwickelte Tauschgesellschaft gibt, der immer weiter fortschreitenden institutionellen Umklammerung des Lebens zu opponieren und ihr ein Bild des Menschen als eines freien Subjekts entgegenzuhalten. Im unfreien Zustand aber ist Kunst des Bildes der Freiheit mächtig nur in der Negation der Unfreiheit. Sie spottet des Aufrufs zum Positiven.

Wird weiter eingewandt, die Freiheit des Künstlers sei selber bloß Ideologie, und gerade die authentischen Kunstwerke hätten stets in gewisser Weise unter sozialer Kontrolle, dem Willen der Auftraggeber oder dem Richtspruch des Marktes gestanden, so ist das sophistisch. Selbst wenn es schon immer schlecht gewesen wäre, wäre das keine Rechtfertigung dafür, das Schlechte bewußt am Leben zu erhalten. ...Das fraglose Elemente von Schein in der künstlerischen Freiheit legitimiert nicht die Absicht, aus der Kunst alles zu verscheuchen, was an das Entfesselte, die wahre Freiheit gemahnt.

 

Nono: Geschichte und Gegenwart in der Musik von Heute. Vortrag 1.9.1959. In: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik III - 1960. Schottverlag, Mainz 1960 [gekürzt durch Stockhausen]; vollständig nach Mitschrift Helmut Lachenmanns in: Luigi Nono Texte Studien zu seiner Musik, hg. von Jürg Stenzl. Atlantis, Zürich 1975.

Man lehnt nicht nur die Geschichte und ihre formenden Kräfte ab, sondern man geht sogar soweit, in der Geschichte die Fesseln für die sogenannte "spontane Freiheit" des menschlichen Schaffens zu sehen.

[Zu Cage:] Das ist die Kapitulation vor der Zeit, die resignierende Flucht jener, deren Ambitionen auf Verabsolutierung des eigenen Ichs kurzatmig geworden sind durch die verschiedenen Niederlagen, welche die Geschichte ihnen bereitet hat ... es ist die Sehnsucht nach einem Zustand naiver und unverlierbarer Unschuld derer, die sich schuldig fühlen, aber das bewußte Erkennen vermeiden möchten. - Die Stillegung jeglicher geistiger Aktivität führt einerseits zu individueller Passivität, andererseits zu einer Aktivität des Materials, mit deren müßiger Beobachtung sich das musikalische Erlebnis künftig begnügen zu sollen scheint.

[Zur Collage/Stockhausen:] Die Collage-Methode ist ganz alt. [Beispiel Münster von Aachen.] Die Collage-Methode entstammt kolonialistischem Denken... greift man in brutaler Unbekümmertheit und mit ästhetischem Schauern nach ihren Erzeugnissen, um von der Faszination ihrer exotischen Fremdheit zu profitieren.

[Zur Aleatorik:] Heute will man uns Improvisation als Befreiung einreden, als Garant der Freiheit des Ichs. Und dagegen natürlich: Ordnung als Zwang, als Fesselung des Ichs. Diese Alternative birgt die Gefahr in sich, Komposition mit Spekulation zu verwechseln. Versuche, das "durchorganisierte" Komponieren mit dem Hang zu politischen Systemen zu vergleichen, sind eine in ihrer Grobheit mitleiderregende Bevormundung des Intellekts, der unter Freiheit etwas anderes versteht als die Aufgabe des eigenen Willens. Von dem eigentlichen Begriff schöpferischer Freiheit als der bewußt erlangten Kraft, in seiner Zeit und für seine Zeit die notwendige Entscheidung zu wissen und treffen zu können, haben unsere "Freiheitsästheten" keine Ahnung.

 

Nono: Briefe an Karl Amadeus Hartmann 1959. In: Jürg Stenzl: Luigi Nono. Rowohlt, Reinbek 1998, S. 49-52

[Über Warschauer Herbst:] kaum zurück aus Polen! meine schönste Erfahrung bis heute, als Mensch-Musiker, dort sehr wichtig: die große Hoffnung!!!!!!!!!!!! musikalische Situation: sehrrrrrrrrrrr schön. dort wirkliche Freunde, verrückte-romantische-lebendige Freunde! und menschliche Basis, kein Kreis, keine Snoberei: man ist wie bei der Arbeit. Publikum, 2000 Personen, begeistert von Schönberg und Webern. Überlebender von Warschau wiederholt und man wollte drei mal hören.

hingegen etwas kalt vor der unerträglich-falscher-unkönner offizialer sovietischer Musik: wirklich so deprimierend und traurig wie nie gemeint. unmöglich was für ein Kreis und was für Falsch und Unmenschlich!!!!!!!!!!

[Über die von der Biennale Venedig 1959 abgesetzte Aufführung der Lorca-Epitaphs:] ich bin Dir dankbar weil Du mit Deiner Reaktion hast beweist wie wahr unsere Freundschaft. heute ist das unglaublich wichtiger als alle anderes. sonst man lebt besser unter der Erde. besonders wenn italienische Erde ist, weil über die italienische Erde leben fast nur Schweine.

 

Stockhausen: Musik und Sprache. Darmstadt 1959. In: die reihe, Band 6. Universal-Edition Wien 1960, S. 44

In manchen Stücken des "Canto" komponiert Nono den Text aber so, als gälte es, dessen Sinn wieder zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit, in die er nicht gehört. Den Komponisten haben diese Briefe [= Abschiedesbriefe von politischen Gefangenen, die zum Tode verurteilt waren] tief berührt. ... In den Teilen II, VI, IX und streckenweise auch in III macht er aus der Sprache wieder Laute, Klänge. Er läßt die Texte nicht vortragen, sondern birgt sie in einer so rücksichtslos strengen und dichten musikalischen Form, daß man beim Anhören nichts davon versteht. Wozu dann überhaupt Text, und gerade diesen? Man kann es sich so erklären: Besonders bei der Vertonung derjenigen Briefstellen, bei denen man sich am meisten darüber schämt, dass sie geschrieben werden mussten, nimmt der Musiker nur noch als Komponist Stellung zu sich selbst... er interpretiert nicht, er kommentiert nicht: er reduziert vielmehr die Sprache auf ihre Laute und macht mit diesen Musik, Lautmanipulationen a, ä, e, i, o, u; serielle Struktur.

Fußnote: [aufgrund des mündlichen Einwandes Nonos in Darmstadt:] Der Leser möge also meine Überlegungen und Analysen nicht als Beweis der Nonoschen, sondern meiner eigenen Komposition betrachten - dargestellt am Objekt eines anderen Komponisten.

 

Nono: Text - Musik - Gesang. Darmstadt 8.7.1960. In: Luigi Nono Texte Studien zu seiner Musik, hg. von Jürg Stenzl. Atlantis, Zürich 1975.

[S. 59:] Die letzte Einheit, in welche er [der Text von "Il canto sospeso"] aufgespalten wird, ist das Wort und nicht die Silbe. Durch die sukzessive Verteilung der Worte in verschiedene Stimmlagen ist die Einheit der linearen Deklamation gleichsam im Sinne eines Chorals gewahrt, gleichzeitig aber auch aufgelockert, um neue Beziehungsmöglichkeiten zwischen den Eigenschaften der gesungenen Klanggestalt der Worte zu schaffen, sodaß ein Wort in seiner Beziehung zum semantischen Gehalt des ganzen Textes abgestuft werden konnte. ... Und aus diesem Grunde erweist sich eine rein phonetische Analyse der Vokalstruktur des zweiten Stückes aus "Canto sospeso", wie sie Stockhausen versucht hat, hier, wo es um die Gestaltung eines menschlich bezogenen Ausdrucks geht, als ganz sinnloses Unterfangen, so angebracht seine solche Analyse auch dort sein mag, wo die Musik sich in bloßen Materialkonstellationen um des Materials willen vollzieht.

...es ist völlig Unsinn, aus der analytischen Behandlung der Klanggestalt des Textes zu folgern, damit sei diesem der semantische Gehalt ausgetrieben. Das Prinzip der Textzerlegung hat dem Text seine Bedeutung nicht ausgetrieben, sondern hat den Text als ein phonetisch-semantisches Gebilde zum musikalischen Ausdruck gemacht. Die Komposition mit den phonetischen Elementen eines Textes dient heute wie früher der Transposition von dessen semantischer Bedeutung in die musikalische Sprache des Komponisten.

 

Jost Hermand: Die restaurierte Moderne im Umkreis der musikalischen Teilkulturen der Nachkriegszeit. In: Musikpädagogische Forschung 4. Laaber-Verlag, Laaber 1983, S. 184-185

[Warum konnte sich 1950 in der BRD die Avantgarde um Melos gegenüber den "Konservativen" um musica durchsetzen?] Dass es gerade in der Bundesrepublik zu einem so nachdrücklichen Bekenntnis zu einem allgemeinen "Ideologieverdacht" kam, ist nach den Erfahrungen unter dem Faschismus nicht weiter verwunderlich. ...Schließlich vollzog sich diese Entwicklung auch im Umfeld der verstärkten Frontstellung gegen jenen Sozialistischen Realismus hinter dem Eisernen Vorhang, unter dem sich die Westdeutschen der fünfziger Jahre aufgrund ihrer ständigen Hetze gegen die "DDR" nur eine völlig minderwertige Plakatkunst vorstellen konnten.

...das allgemeine Antitotalitarismusgerede, bei dem zwischen Faschismus und Kommunismus ohnehin kein qualitativer Unterschied gemacht wurde, lieferte genügend Anhaltspunkte des fortschreitenden Abstraktionsprozesses in der Musik.

Um der restaurierten Moderne wirklich zum Sieg zu verhelfen, mußten auch rein materielle, soziale und ökonomische Faktoren mit ins Spiel kommen ... der rechtlich-öffentliche Rundfunk... und eine Trägerschicht, die zwar maximal 1% der Bevölkerung umfasste...

[Zur Trägerschicht:] freischwebende Intellektuelle, anpassungsbereite Journalisten, modebewußte Snobs, auf das Nouveauté-Wesen eingestellte Komponisten, mit dem Schein des Neuen leicht zu verführende Jugendliche höherer Bildungsgrade sowie gewisse neugierige Manager, Freiberufliche und höhere Angestellte, die Wert darauf legten, modern zu sein. Jedenfalls ist diese Trägerschicht nicht mehr jene bildungsbewußte Altbourgeoisie, die um 1950 unter anspruchsvoller Musik noch immer etwas Erbauliches, Tiefgründiges oder auch handwerklich Gekonntes, Repräsentatives verstanden hatte.

So hörten damals die Parvenüs Werke eines Webern, Stockhausen oder Boulez durchaus neben Cool Jazz oder Rock’n’Roll der 50er Jahre. Während bis 1950 in den führenden Musikzeitschriften noch ein enormer Sinnhunger geherrscht hatte, setzte sich innerhalb der Parvenüschichten ein Erfolgs- und Aufstiegsdenken durch, dessen oberste Werte Auffallenwollen, Dabeisein und Bereicherung waren. Für die Intellektuellen [im Gegensatz zu den Parvenüs] innerhalb dieser Schicht erfüllte dagegen diese Musik eine andere Funktion. Sie gab ihnen das erwünschte Gefühl, der dummen breiten Masse, die immer noch am Tonalen und Melodiösen klebe, ästhetisch und geistig turmhoch überlegen zu sein. ...erfreute sich diese Intelligenz weiterhin kritiklos an den ästhetischen Produkten einer ghettoartigen Narrenfreiheit, die selbst in ihrer formalen Radikalität einen ausgesprochen affirmativen Charakter hatte.

 

György Ligeti: Atmosphères. In: Programmheft Donaueschinger Musiktage 1961, S. 14.

In Atmosphères versuchte ich, das strukturelle kompositorische Denken, das das motivisch-thematisch ablöste, zu überwinden und dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum; und die Klangfarben, die eigentlichen Träger der Form, werden - von den musikalischen Gestalten gelöst - zu Eigenwerten.

 

Ursula Stürzbecher: Komponisten in der DDR. 17 Gespräche. Gerstenberg Verlag Hildesheim 1979. Über Matthus S. 231-33

Kann man Ihre Musik als "realistisch" bezeichnen?

Freude an der Musik ist mir unbedingt wichtig. Durch Schönheit zu wirken ist für mich eine wichtige Aufgabe. Zum Beispiel schätze ich an Boulez die aus der strengen Konstruktion hervorbrechende Klangsinnlichkeit. Brecht hat das Sinnenhafte als etwas Irdisches bezeichnet, als etwas, das unbedingt dem Realismus zugeordnet werden muß.

 

Frank Schneider: Das Violinkonzert von Siegfried Matthus. In: Sammelbände zur Musikgeschichte der DDR, Band II. VNM, Berlin 1971. S. 144-180

Das Konzert... hat sich als außerordentlich anregender, origineller und wirkungsvoller Beitrag zum sozialistisch-realistischen Schaffen legitimieren können. ...sowohl dem Belehrendem, dem was an dieser Musik konkret gelernt werden kann, als auch der vergnüglichen Darbietungsweise..., schließlich auch der Vermittlung beider und der daraus resultierenden besonderen gesellschaftlichen Funktionalisierung des Werkes...

Reihenprinzip; Verwendung der Konsonanten der Namen "Manfred Scherzer und Siegfried Matthus"; drei Grundklänge, die aus Terzschichtungen entstehen; rhythmische Grundpatterns (synkopisch); erkennbare Motive; überwiegend homophone Gestaltungsweise; Zitattechnik.

[3. Satz:] Vereinigung von drei disparaten Gestaltungselementen: ...das konflikthaft gestaltete, metrisch genormte Dialogrezitativ zwischen Violine und Bläser-Tutti; die monologisierende, metrisch freie, virtuose Improvisation; das Tutti und Solo vereinende heteronome Zitat.

Dieser dritte Satz stellt sich der intendierten Lösung des künstlerisch-ästhetischen Verhältnisses zwischen Tradition und Neuerertum in belehrender wie vergnüglicher Darbietung...

Letztlich meint der Satz wohl die akute Frage, wie in der zeitgenössischen und insbesondere unserer Musik des sozialistischen Realismus höchstes kompositorisches Niveau mit maximaler gesellschaftlicher Effektivität in Übereinstimmung gebracht werden können. Den Versuch, auf diese Problematik eine mögliche, persönliche, überzeugende Antwort zu geben, unternimmt Matthus im ganzen Konzert.

 

Thomas Beimel: Mein Heim ein Stein. Zu Violeta Dinescus "Echoes I" (1982). Auf dem Booklet der gleichnamigen CD, 1994

"Echoes" ist eine Serie dreier Solokompositionen, die auf Kombinationen einer mathematischen Methode basieren, welche logarithmische Skalen und andere Regeln benutzt. Ferner ist der gesamte Zyklus von einer "Doina" [= rumänische Improvisationsform der Volksmusik, heute bekannt aus der Klezmerszene] inspiriert. Dieses Material, welches durch ein Leitmotiv - einem Anklang an Glocken - angereichert wird, gewinnt in dem Prozess einer ständigen Metamorphose eine lebendige Gestalt.