Einleitung zum Vortrag im Rahmen der Oldenburger Ringvorlesung Philosophie „Krise als Chance?“ von Wolfgang Martin Stroh
Durch die technische Möglichkeit, Musik so gut wie „eins zu eins“ digital zu kopieren, ist in den vergangenen 25 Jahren eine Art Schattenwirtschaft des Musikhandelns entstanden. Zunächst wurden lediglich gekaufte CD’s für Freunde oder den Weiterverkauf auf Flohmärkten kopiert. Viele wertvolle Musiknummer beispielsweise aus der Zeit des Balkankrieges, von den politischen Bewegungen in Uruguay oder aus dem Inneren der Türkei habe ich auf diese Weise erworben. Ich habe sie besten Gewissen als Material für wissenschaftliche Forschung und für die Verbesserung meiner Hochschullehre verwendet und nie daran gedacht, einen Händler auf dem Bremer Flohmarkt anzuzeigen. Die auf solchen illegal kopierten CD’s gespeicherten Computerdaten waren so groß, dass auch bei schnellen Internetverbindungen kein „Online-Kopieren“ in Frage kam: 60 Minuten Musik in CD-Qualität sind immerhin 600 MB groß (eine CD kann 720 MB speichern).
Diese Art des Hardware-Kopierens jedoch war nichts Neues. Ganz Afrika, halb Lateinamerika und Asien hingen 30 Jahre mittels MC-Kopien am Tropf der Multikonzerne der Musikindustrie. Diese Schattenwirtschaft wurde von den Musikkonzerne aus strategischen Gründen toleriert, war doch die illegal kopierte MC die Einstiegsdroge in das „eigentliche“ globale Musikgeschäft. Irgendwie musste ein Bedürfnis nach global und industriell hergestellter Musik ja erst einmal erweckt werden. Die weltweit illegale Kopier-Schattenwirtschaft wurde also als eine Art Werbung „abgerechnet“. (Ich hebe diesen Gedanken hervor, weil er heute das Pro & Contra um kostenloses Downloaden bestimmt.)
Im Laufe der 1990er Jahre wurden Musikdateien mittels mp3 kleiner gemacht, wobei der hörbare Qualitätsunterschied sich in Grenzen hält und offensichtlich akzeptiert wurde. An die Stelle der bisherigen Hardware-Kopie trat das schlichte Überspielen und Speichern von Computerdateien von Festplatte zu Festplatte. Und im letzten Jahrzehnt wurden die Übertragungsgeschwindigkeiten des Internet so weit gesteigert, dass die Übertragungszeit von Musikdateien via Internet kleiner ist als die Zeit, die das Abhören der Musik benötigt. Heute können über DSL die Daten eines 60-Minuten Musikstücks in wenigen Minuten übertragen werden.
Neben den weltweiten Kopiermarkt trat nun das Downloaden von Musik(dateien). Und das verlief global, schnell und so gut wie „immateriell“. Der Flohmarkthändler und der türkische Gemüseladen mit CD-Regal im Hintergrund verschwanden von der Oberfläche. Die Musikindustrie, die sich auf Hardware-Produkte spezialisiert hatte, war alarmiert und begann zusammen mit der GEMA, den Musikräten und Gesetzgebern um ihre gewohnte Gewinnmaximierung zu bangen.
Entwarnung vorweg! Nach einer Pressemitteilung des deutschen Bundesverbandes der Musikindustrie e.V. vom 25. 3.2010 stieg der Absatz von CD’s in Deutschland von 2008 auf 2009 um 1,5% auf 147,3 Millionen Euro. „CD’s, DVD’s und LP’s machen hierzulande immer noch 90 Prozent des Umsatzes mit Musik aus“, sagte der Geschäftsführer. (Der Umsatz von legalen Downloads erhöhte sich übrigens um 34,6% auf 118,3 Millionen Euro.) Und der Umsatz an traditionellen Tonträgern insgesamt hat sich „asymptotisch der Grenze von 1,5 Milliarden genähert und für 2011 wird ein Turnaround erwartet“.
Da es aber heute dennoch ausgemacht zu sein scheint, dass (1) die Musikindustrie in einer schweren Krise sei und (2) die Ursache das massenweise illegale Downloaden von Musik ist, werde ich einige Richtigstellungen vornehmen. Denn selbst v.e.r.d.i. schreibt anlässlich einer Fachtagung am 26.4.2010 im Internet: „Nach einer kürzlich vorgelegten Untersuchung (TERA-Studie vom März 2010) hat die illegale Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte im Internet allein in Deutschland im Jahr 2008 bei Produktion und Vertrieb von Spielfilmen, TV-Serien, Musik und Software einen Schaden von 1,2 Milliarden Euro verursacht und damit rund 34.000 Arbeitsplätze gekostet.“
Sehen wir uns diese populäre Argumentation genauer an:
Es ist irrig anzunehmen, jeder kostenlose Musikdownload hätte sich, wenn er nicht getätigt worden wäre, in einen Kauf umgesetzt. Das Kaufvolumen bemisst sich nach dem Taschengeld eines Jugendlichen. Wenn der kostenlose Download ein Volumen von 1,3 Milliarden Euro hat, so ist dies also keineswegs die „Schadenshöhe“ der Musikindustrie.
Dass ein (fälschlicherweise unterstellter) Umsatzrückgang automatisch Arbeitsplätze kostet wie v.e.r.d.i . vorrechnet, ist die Bankrotterklärung einer Gewerkschaft aber kein stichhaltiges Argument. Es ist eine Assoziation aus der Kiste der Merkel-Phraseologie.
Dass die Gewinne und der Umsatz der Musikindustrie sich von den traditionellen Hardware-Tonträgern auf neue Segmente wie Klingeltöne, i-pod-taugliche Musikdateien und generell das legale Downloaden verschoben haben, wird meist nicht erwähnt. Allerdings fällt die erhoffte Gewinnmaximierung durch die Erschließung neuer Segmente geringer als erhofft aus. Denn die Tonträgerindustrie hat durch Zögern viel an Terrain gegenüber anderen Industriezweigen verloren. Mittels GEMA etc. versucht sie verzweifelt verlorenes Terrain zurück zu gewinnen. Der GEMA-Umsatz ist 2009 um 2 % gestiegen.
Dass der Umsatz traditioneller Tonträger im verflossenen Jahrzehnt gegenüber den 1990er Jahren zurück gegangen ist, kann mehr als nur die genannten Ursachen haben. Erstens stieg der Umsatz aufgrund der Umstellung von LP auf CD in den 1990er unmäßig an und ging dann wieder auf Normalniveau zurück. Zweitens stagniert die Popmusik-Produktion inhaltlich seit 15 Jahren, es gibt keine neuen Stile und Trends, so dass es wenig Anreiz zu Neukäufen gibt. Eine Folge ist der Versuch der Musikindustrie, Revival-Wellen zu inszenieren, die erheblich weniger Produktionskosten verursachen. Dass sich die Musikindustrie innovativen Musikstilen wie beispielsweise der türkisch-arabischen Popmusik noch vollkommen verschließt, ist trotz des 11. Septembers pure Ignoranz und Dummheit.
Das Internet hat neben der herkömmlichen Fremdvermarktung via Plattenvertrag die Möglichkeit der Selbstvermarktung von Musiker/innen geschaffen. Hierzu gibt es Beraterfirmen, spezifisch Programmierer, Internetplattformen und –betreiber, Techniken (wie z. B. alle mit einem „i“ versehenen Geräte). Dieser Sektor stellt die eigentliche Konkurrenz der Musikindustrie dar, doch da er unangreifbar ist, wird er ignoriert und schamhaft nicht thematisiert.
Dass das kostenlose Downloaden von Musikdateien, die übrigens um den Faktor 10 kleiner als Dateien von CD-Qualität, also nicht einmal absolut „ein zu eins“ sind, den Umsatz traditioneller Produkte der Musikindustrie kausal minimiert, ist nicht bewiesen. Die von vielen Musiker/innen, die industriell vermarktet werden – Madonna, Prince usw. - , vertretene Meinung ist, dass der kostenlose Download zum CD-Kauf anregt, und letzterer lediglich durch das Taschengeld der Käufer/innen begrenzt ist. Das Argument ist vergleichbar demjenigen, dass Konzerte nicht vom CD-Kauf abhalten sondern zum Kauf animieren.
Insgesamt ist die Musikindustrie extrem konservativ: sie verschläft Innovationen musikalischer und technischer Art, bejammert den Niedergang veralteter Produktionsweisen und produziert anlässlich ihres Erwachens nun massiv Ideologie, weil eine Reihe innovativer Märkte von anderen Industriezweigen übernommen worden sind. Arbeitsplatzmäßig hat sich, wenn überhaupt, eine jener vielen Umverteilungen – übrigens weitgehend innerhalb des Einzugsgebiets von v.e.r.d.i. abgespielt, von denen die globale Wirtschaft lebt.
Dennoch lässt es der verängstigten Musikindustrie seit 2004 keine Ruhe, dass sie die technischen Entwicklungen des Internetzeitalters weitgehend verschlafen und Marktsegmente an andere Industriezweige abgegeben hat.
Im Folgenden interessiert mich der strategische Schwenk der Argumentation der deutschen Musikindustrie beim Kampf um den Erhalt der gewohnten Gewinnmaximierung. Ich werde diesen Schwenk aus musikpädagogischer Perspektive betrachten, weil die deutsche Musikindustrie in zwei Kampagnen 2004 und 200/10 die Musikpädagogik um Hilfe gerufen hat. Der Grund liegt darin, dass die deutsche Musikindustrie Kinder und Jugendliche nicht nur als potente Käufer/innen ihrer Produkte, sondern auch ihre potentiellen Feinde ausgemacht hat, sind es doch gerade Kinder und Jugendliche mit wenig Taschengeld, die sich Musik kostenlos aus dem Internet downloaden statt diese käuflich zu erwerben. .
(Der komplette Vortrag hier.)