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Der
jugendbewegte pädagogische Körper im Jahr 2000
(Originalaufsatz
“Der JPBK 2000” in: Aspekte gegenwärtiger Musikpädagogik. Ein Fach im
Umbruch. J.B.Metzler 1991. Hier ohne Bilder!)
Es
gibt einige Konstanten der schulischen Musikpädagogik, die so großes
Beharrungsvermügen gezeigt haben, daß ein Überleben in das nächste
Jahrtausend wahrscheinlich zu sein scheint. Eine dieser Konstanten ist der JBPK,
der jugendbewegte pädagogische Kürper. Zu Zeiten der klassischen
Jugendbewegung und in Erinnerung hieran noch heute bewegt er sich singend durch
die absterbenden Wälder, nach dem 2. Weltkrieg bemühte er sich, geleitet durch
Carl Orff, um Stab- und Reigenspiele und neuerdings schwingt er die Hüften zu
Rock, Rap und Lambada. Zwei Eigentümlichkeiten kennzeichnen den JBPK:
Erwachsene bewegen sich wie Jugendliche, sind es aber (zum Glück) nicht; die
Bewegung erfolgt nicht spontan und unbewußt, sondern aufgrund von guter Ein-
und Absicht. Daher sieht die Bewegung des JBPK nicht sexy, lasziv, extravagant,
grenzenlos, unberechenbar, erruptiv, sonder eher geordnet, sittsam, begrenzt,
absehbar, beherrscht aus.
Der
Kopf des JBPK liebt die Themen Musik und Bewegung, Musik und Spiel oder Musik
und Tanz. Am liebsten sieht er es, wenn sich Kinder und Jugendliche nach seinem
Spiel frühlich und taktvoll im Tanze drehen. Die dionysische Kraft der Musik,
die Kürperlichkeit subkultureller Rockmusik, die Kürpermagie außereuropäischer
Musik, die Vibrationen phonstarker akustischer Ereignisse, die unheimliche
Suggestivkraft monotoner Rhythmen sieht er eher unter dem Aspekt des wachsamen
Schuldirektors oder des gefährdeten Mobiliars als unter dem der Musikimmanenz.
Bewegung, Spiel und Tanz sollen dionysische Kürperlichkeit nicht entfesseln,
sondern ordnend bannen. Musik und Kürper sind ihm in einer rationalisierten
Brain-Gesellschaft nicht nur ein Zeichen geheimer subversiver Sehnsüchte
Erwachsener, sondern vor allem auch Inbegriff aller Bemühungen,
"alles" in einen lenkenden Griff von Wissenschaft, Pädagogik und
Therapie zu bekommen.
Als
der Arbeitskreis Musikpädagogische Forschung (AMPF) im Herbst 1989 seinen
Jahreskongreß zum Thema Musik und Kürper durchgeführt hat, bedauerten die
meisten ReferentInnen, daß die wichtigsten Bewegungen beim Musikmachen alles
andere als gelüst und locker wären. Zahlreiche Methoden (wie Alexandertechnik,
Feldenkraismethode, Meditation, Yoga) haben HochschullehrerInnen erfunden und
vorgeführt, um karrierehemmende Verkrampfungen bei MusikstudentInnen zu lüsen.
Es bestand Einigkeit darüber, daß auch in der schulischen Musikpädagogik ein
nicht beherrschter Widerspruch zwischen der kürperbetonten Art, mit der
Jugendliche Musik wahrnehmen und verarbeiten und den musikdidaktischen Ansätzen
unserer Tage bestehe. Und es wurde auch deutlich, daß ein klassischer oder
neoklassischer JBPK diesen Widerspruch nicht auflüsen kann.
Modernste
MusikpädagogInnen, die dem herrschenden Musikbetrieb ganz genau hinter die
Kulissen schauen und das dabei Erlebte in der Schule umsetzen, reproduzieren in
ihren Ansätzen oft ungewollt eher die kürperzähmenden Anstrengungen der
Musikindustrie als daß sie die latent kürperbetonten Kräfte musikindustriell
verbreiteter Rockmusik freilegten. Die geschliffenen elektronischen Klänge, die
in Sequenzern eingegebenen Songs, die von Lasern ausgedruckten und von Rechnern
quantifizierten Musikideen oder die im Millisekundenzeitcode synchronisierten
Videographiken ... sie alle spiegeln den gut gelungenen Versuch des herrschenden
Musikbetriebs wider, das Subversive der Musik, das sich primär in Kürperspontaneität
äußert, zu domestizieren.
Die
zuletzt erwähnten musikpädagogischen Bemühungen zeigen, wie schwer es
theorielose Schülerorientierung hat. Andererseits weiß man, wohin
Theorielastigkeit gerade im Hinblick auf Popularmusik führen kann. Ich müchte
daher die These aufstellen, daß heute zwar auch theoretische Konzeptionen für
die Musikpädagogik vonnüten sind, daß diese aber n i c h t das
Dilemma der Kürperfeindlichkeit der Pädagogik lüsen künnen; vielmehr steht
eine systembedingte Phantasielosigkeit des JBPKs einer Lüsung im Wege. Der JBPK
ist keineswegs eine zufällige und überholbare Konstante der Musikpädagogik,
sondern d a s charakteristische Merkmal einer staatlich verordneten
Anstrengung, die sich "Pädagogik" nennt und Menschen ihre Grenzen
zuweist. Der JBPK ist allerdings ein Boarderlinephänomen: er ist selbst ein gefährdeter
Grenzgänger, er hat, noch im eingegrenzten Lande wandelnd, das entgrenzte Land
- die Musik! -schon erblickt.
Ich
weiß, im Grunde stimme ich das alte Klagelied an: die Musikpädagogik verrät
die Musik - nicht aus büsem Willen
oder aus Unvermügen Einzelner, sondern aus Prinzip. Was dies Klagelied aber
hoffnungsfroh und neu klingen läßt, ist die Tatsache, daß ich im JBPK und
seiner systembedingten Phantasielosigkeit ein Phänomen sehe, das ja jede/r PädagogeIn
mit sich herumträgt, für das sie/er hüchstpersünlich verantwortlich ist und
das, obgleich systembedingt, doch individuell veränderbar ist. Und in eben
diesem Sinne sollen die nun folgenden Berichte über einige Projekte kürperbetonter
Musikpädagogik, die vor allem auch der Weiterentwicklung musikpädagogischer
Phantasie dienen sollten, gelesen werden. Es handelt sich um einige Versuche,
neue Lern-und Präsentationsformen für Musik zu entwickeln: im
Ersten improvisierenden Streichorchester, in den Oldenburger
Kindercombos, mit dem Konzept derSzenischen Interpretation von Opern, mit ersten
Versuchen institutionalisierter Musikmeditation und
mit einer "computergestützen" Musikkürperperformance Brain
and Body. Die folgenden Berichte sind nur knappe Skizzen der Projekte, über die
an anderer Stelle detaillierter berichtet worden ist oder noch wird, denen es
vor allem auf das Gemeinsame in Bezug auf den JBPK und seine systembedingte
Phantasielosigkeit ankommt.
Das
Erste improvisierende Streichorchester
Oft
zeigen sich bei MusikerInnen innere Ängste - die Ursache von Phatasielosigkeit
-dadurch, daß sie nicht "einfach drauflos musizieren" künnen.
Fingerfertigkeit und künstlerischer Anspruch behindern Profis, vom Wege
berufsbedingter Tugend des exakten Reproduzierens abzuweichen. Bei
MusikstudentInnen äußert sich ein Unbehagen über diesen Zustand im Wunsch,
Improvisation zu lernen. Sie erwarten dabei eine Art Unterweisung, die sich
qualitativ nicht von derjenigen des notengerechten Instrumental- oder
Vokalunterrichts unterscheidet. Im Metier des Jazz, beim Spiel von Skalen oder
nach II-V-I-Kadenzen findet solch ein Wunsch die erhoffte Erfüllung. Und daher
ist Jazz ein geschätztes Ausweichgebiet an Musikausbildungsstätten geworden.
Eine "Befreiung" des solcherart mißbrauchten und europäisierten Jazz
künnte sich in der Praxis ergeben, wenn MusikerInnen ihre geheimen Sehnsüchte
n i c h t in Skalen-,
Kadenz- und Combospiel befriedigt
sehen. Dies hat sich sogleich nach der Gründung des Ersten improvisierenden
Streichorechesters 1984 gezeigt: Uns Gründern schwebte zunächst eine Art
streichender Jazzbigband vor. Doch schon bei den ersten Auftritten drängten die
MusikerInnen nach extravaganten und offensichtlich publikumswirksamen Kürperaktionen.
Mittlerweile ist das Ensemble bekannt und geschätzt wegen seiner Verbindung von
"Musik und Theater", wobei Professionalität im Bereich Musik bewußt
demonstriert, im Bereich Theater aber nicht angestrebt wird. Nach mehr als fünf
Jahren Orchesterimprovisationsarbeit und nach über 70 Konzert-, Fernseh- und
Funkauftritten kann festgestellt werden, daß ein ganz entscheidender Schritt
die Überwindung von Ängsten vor der dionysischen Kraft der Musik gewesen ist
und daß diese Überwindung mit einer erstaunlichen musiktheatralischen
Phantasieproduktion einher gegangen ist. (STROH 1989 [1], [3], [4], SCHWARTING
u. STROH 1989.)
Die
Oldenburger Kindercombos
Die
Instrumentalpädagogik hat noch viel wenig Gebrauch von der Tatsache gemacht, daß
Kinderund Jugendliche Musik ganzheitlich und kürperbezogen verarbeiten. Für
Kinder und Jugendliche wird Musik von und in Gruppen gemacht, wird showmäßig
auf Bühnen, vor Mikrophonen und Kameras produziert, ist eine üffentliche
Angelegenheit und ein soziales Ereignis. Warum wird im Instrumentalunterricht
diese Sicht der Betroffenen, die eng mit der Motivation, ein Musikinstrument
lernen zu wollen, zusammenhängt, sträflich vernachlässigt? 1987 wurde in
Oldenburg die erste Kindercombo gegründet, in der Kinder im Alter von 8 Jahren
zusammengefaßt wurden, die Einzelunterricht am Instrument und/oder Musikschulen
frustriert verlassen hatten, ohne ihre Motivation, Musik selbst machen zu
wollen, verloren zu haben. Die Kindercombo begann sogleich als
"richtige" Combo und nicht als eine nachträgliche Zusammenfassung von
InstrumentalistInnen, die einzeln ausgebildet worden waren. Es wurden von Anfang
an weniger Gitarrengriffe, Drum-Schläge und Einzeltüne auf Saxophon und
Trompete geübt, sondern vielmehr ein authentisches Gruppengefühl und ein Bewußtsein
für Präsentation vermittelt. Noch fast auf instrumentaltechnischem Nullniveau
wurden "Auftritte" vor freundlich gesinntem Publikum im
Scheinwerferlicht und angesichts duftender Waffeln durchgeführt. Die
Instrumentalunterweisung wurde den ganzheitlichen Zielen untergeordnet, erlangte
aber im Laufe des 2. Jahres zunehmend an Bedeutung, sodaß mittlerweile die
erste Combo als stadtbekanntes Phänomen bei Kinder- und Straßenfesten
auftreten kann. Inzwischen sind drei weitere Kindercombos gegründet worden, die
nach demselben Prinzip arbeiten. (STROH 1988, 1989 [1].)
Szenische
Interpretation von Opern
Das
Lernen mit dem Kürper hat am pronociertesten Ingo Scheller (SCHELLER 1981,
1984, 1987) didaktisch ausgearbeitet. Er hatte den Mut zu behaupten, daß nicht
nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Kürper gelernt und nicht nur
schriftsprachlich, sondern auch "kürpersprachlich" Gelerntes verüffentlicht
wird. Im Musikunterricht führt das aus Schellers Ansatz folgende
"szenische Spiel" über das bekannte Rollenspiel hinaus (STROH 1982,
1985). Ralf Nebhuth und Rainer Brinkmann haben in zahlreichen
Lehrerfortbildungsveranstaltungen die Konzeption auf die Interpretation von
Opern übertragen. Dabei werden weniger Opernszenen nachgespielt, sondern werden
durch kürperbezogene (Selbst-)Erfahrungstechniken Beziehungsstrukturen,
Problemkonstellationen, musikdramatische Kernsituationen usw.
"verstanden". Dutzende von Unterrichtsversuchen haben gezeigt, daß
SchülerInnen aufgrund dieses kürperbezogenen Ansatzes bereit und in der Lage
sind, sich mit Opern wie "Carmen", "Figaros Hochzeit" oder
der "Dreigroschenoper" intensiv auseinanderzusetzen. Das
Lehrerfortbildungprojekt "Szenisches Spiel als Lernform" an der
Universität Oldenburg geht wohl zu Recht davon aus, daß die LehrerInnen - in
unserem Fall also die JBPK - einer eigenen Kürpererfahrungsschulung bedürfen,
bevor sie mit SchülerInnen zusammen überzegend szenisch spielen künnen.
(BRINKMANN/NEBHUTH 1988,NEBHUTH/STROH 1990, SCHELLER 1989,BRINKMANN/NEBHUTH/STROH
1990.)
Im
Sommersemester 1989 habe ich erstmals versucht, zusammen mit einem einschlägig
erfahrenen Kollegen, im Rahmen des universitären Veranstaltungsangebots
Musikmeditationen durchzuführen. Einstündige Morgenmeditationen vor Beginn der
anderen Lehrveranstaltungen wurden von einer studentischen Gruppe vorbereitet,
durchgeführt, ausgewertet und hochschulüffentlich angeboten. Viele Nach-und Rückfragen
von StudentInnen und KollegInnen bestätigten mir, daß der Ansatz die Gemüter
beschäftigte, auch wenn der aktive TeilnehmerInnenkreis sich auf insgesamt 9
Personen (also etwa 2% der MusikstudentInnenschaft) beschränkte. Das Ziel der
Meditationsübungen war, eine entspannte,wache und unvoreingenommene Hürhaltung
zu entwickeln und zu praktizieren. Im Fachjargon: eine gegenständliche
Meditation mit dem Meditationsgegenstand "Musik". Die Erfahrungen der
regelmäßig teilnehmenden StudentInnen gingen dahin, daß die
Morgenmeditationen das alltägliche Studieren in einem neuen Licht erscheinen
lassen, das eine grüßere Distanz zu den scheinbaren Zwängen und
eingeschliffenen Ritualen der Lehrveranstaltungen bewirkt. Im Zusammenhang mit
dem JBPK ist interessant zu erleben, wie in der Musikmediation Kürpererfahrungen
o h n e jegliche Bewegung
stattfinden künnen. Spiel, Tanz und Bewegung sind keineswegs die einzigen Zugänge
zum Kürper, ja sie künnen wichtige Erfahrungsmüglichkeiten auch verdecken.
(STROH 1989 [2], 1990 [2].)
Brain
and Body, eine computergestützte Musikperformance
Die
Grundidee dieses Projekts ist 1984 entstanden, als der Jazzgeiger und
Rockkomponist Peter Bayreuther zu Synthesizerklängen spielte, um ungewühnliche
Klangideen zu erhalten. Nachdem Sequenzer und Drumcomputer die Musikszene zu
verunsichern begannen, wurde aus diesem Zusammenspiel ein spannungsreiches
Gegeneinander freier Vokal- und Instrumentalimprovisation mit exakt bemessener
Computermusik. Je differenzierter die Computermusik wurde, um so vielfältiger
wurden die Versuche, die Instrumental- und Vokalimprovisation in eine Kürperperformance
mit einzubeziehen. Die Darstellung des Kürpers in der Performance führte auf
seiten des Computers dazu, daß mittels Sensoren auf einer
"Stepplatte" die Bewegungen abgegriffen und musikalisch
"verrechnet" wurden. Beim heutigen Stand der Technik arbeitet das Duo
"Brain and Body" mit recht differenzierten Mitteln, Bewegungen des
Performers in musikalische Patterns, die im Computer gespeichert sind und die
die Songs üblicher Konzertperformances ersetzen, umzusetzen und mit
musikalischen Mitteln die Bewegungen zu beeinflussen. Aus der konzertanten
Konfrontation der Prinzipien von
Brain (Computer, Technik, Synthesizer) und Body (Instrumentalspiel/Gesang,
Improvisation, Kürperdarstellung) wurde inszwischen ein imaginäres
Musiktheater zum männlichen Kürper und seiner üffentlichen Darstellbarkeit im
Hi-Tec-Zeitalter. Dies Projekt ist überwiegend ein künstlerisches, das sich
als Musikperformance der bundesdeutschen Avantgarde- und Kleinkunstszene
anbietet. Daher entzieht es sich einer Beschreibung im Sinne von "Hypothese
- Durchführung - Erfahrung/Evaluation", wie es bei den anderen Projekten
doch noch weitgehend der Fall gewesen ist. Die beiden an "Brain and
Body" Beteiligten vermeiden sogar bewußt konzeptionelle Diskussionen und
entwickeln ihr Konzept ausschließlich dadurch, daß sie zusammen musizieren und
auftreten und sich der Kritik der Öffentlichkeit stellen. (STROH 1989 [5],
[6].)
Fazit
Die
erwähnten und kurz skizzierten Projekte sind allesamt an der Universität
Oldenburg entstanden und in irgendeiner Weise aus der Musiklehrerausbildung
hervorgegangen. Alle Projekte erschüpfen sich nicht darin, ein musikpädagogisches
oder hochschuldidaktisches Experiment zu sein, sondern wirken über das
Musikstudium hinaus auf die Universität, die Schulen oder das Musikleben
insgesamt. Zugleich bewegen sie den JBPK in einer neuartigen Weise, deren
Ursachen und Ziele abschließend zusammengefaßt sein sollen:
Musikausbildung
ist weitgehend leistungs- und konkurrenzorientiert. Innere Verkrampfungen, die
ganz offensichtlich die motorischen und kognitiven Lernprozesse stark behindern,
künnen durch kürperbezogene Methoden (Feldenkrais, Alexander, Yoga,Autogenes
Training) zwar abgemildert werden. Die Ursachen dieser Verkrampfungen sind aber
durch die Ziele der professionellen Musikausbildung und -ausübung festgelegt
und nicht ohne tiefgreifende Äbnderungen des Musikbetriebs aufhebbar.
Interessanterweise greifen die skizzierten Musikprojekte fast alle nach kurzem
Verweilen im pädagogischen Schonraum auf den Musikbetrieb über und stellen
dort Modelle alternativer Praxis dar (Erstes improvisierendes Streichorchester,
Kindercombo, Brain and Body).
Musikausbildung
ist weitgehend von Ängsten durchkreuzt, die sich nicht nur im berühmten
Lampenfieber sondern auch darin äußern, daß MusikerInnen, wenn es um die Präsentation
ihres eigenen Kürpers geht, sich hinter dem Instrument, hinter anerkannten Kürperbewegungen
(Dirigieren, SängerInnen-Oberkürperbewegung, Kraftausbrüche am Schlagzeug
oder Klavier usw.) verstecken. In den skizzierten Musikprojekten mußten meist
gleich zu Anfang Angstschwellen überwunden werden (Erstes improvisierendes
Streichorchester, Szenische Interpretation, Musikmeditation), oder es wurde
versucht, entsprechende Ängste gar nicht erst aufkommen zu lassen
(Kindercombo). Zwischen dem Grad der Phantasie, den die Musikprojekte
hervorbrachten, und der Angstlosigkeit besteht ein Zusammenhang (dessen
wissenschaftliche Erforschung glücklicherweise nicht einfach ist - was aber
nicht gegen das Phänomen als solches spricht).
Musikausbildung
ist gerade in ihren klientenorientiertesten Formen stark auf den herrschenden
Musikbetrieb ausgerichtet. Wenn sie naiv vorgeht -und das ist zunächst immer
das Einfachste -, dann übt sie allenfalls Kritik an den Formen und Inhalten
(grob gesagt an den Musikstücken) des Musikbetriebs und nicht an der Art und
Weise, wie mit Musik umgegangen wird. Zwischen Entkürperlichung der Musikpädagogik
und einem gewissen Trend zur Medienpädagogik besteht ein enger Zusammenhang.
Die Kindercombo und die Musikmeditation zeigen, daß Versprechungen des
Musikbetriebs - Selbstverwirklichung durch Musikmachen, Entspannung durch Musikhüren
-, auf ganz anderer Ebene eingelüst werden als auf der einer kritischen
Auseinandersetzung mit den Massenmedien. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß
vermittelt durch die Beteiligten, natürlich auch eine Auseinandersetzung mit
der Art und Weise stattfindet, wie heute im Musikbetrieb mit Musik umgegangen
wird.
Musikausbildung
drückt ihre Schwierigkeiten mit der dionysischen Komponente der Musik in einer
zu "Bewegung" gemachten Kürperlichkeit aus. Bewegung ist nicht gleich
Bewegung und erst recht nicht eine Garantie für Kürperlichkeit. Die meisten
Bewegungen disziplinieren Kürperlichkeit (vom Tanz bis zum Marsch). Eine
Neuentdeckung der Kürperlichkeit über das Dionysische der Musik muß sich vom
Spiel-, Tanz-und Bewegungsgedanken erst einmal frei machen. Die skizzierten
Musikprojekte haben alle ihre künstlerische Potenz aus einem Ansatz jenseits
von Spiel, Tanz und Bewegung bezogen. Die Musik, so scheint es hier, bekommt in
einem derart freigesetzten Raum mehr Gewicht und Bedeutung. Selbst bei der
Szenischen Interpretation konnte die Erfahrung gemacht werden, daß Jugendliche
weitaus intensiver Musik gehürt haben, als wenn der kürperbezogene Weg nicht
beschritten worden wäre.
Welche
Prognose, welches Programm folgt hieraus für die Musikpädagogik 2000? Die
Prognose ist, wie schon angedeutet, daß die Konstante des JBPKs weiterhin die
Musikpädagogik mitprägen wird. Das Programm ist, daß dieser JBPK, der sich ja
bereits als Boarderliner betätigt, das gelobte Land der Kürperlichkeit, das
Dionysische der Musik, zu betreten wagt. Hierzu bedarf es meines Erachtens Mut,
einer Überwindung von Ängsten, einer kritischen Stoßrichtung im Hinblick auf
den herrschenden Musikbetrieb und im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir
alle mit Musik betriebsam umgehen.Es bedarf neuer Phantasie und vieler, vieler
kleiner Schritte. Fünf solcher Schritte habe ich skizziert. Vielleicht konnte
ich alle, die (wie ich)noch ein bis zwei Jahrzehnte musikpädagogisch tätig
sein werden, dadurch anregen, an einem neuen JPBK 2000 zu arbeiten!
Hinweise
auf
Quellen, in denen die skizzierten Musikprojekte ausführlicher beschrieben
werden.
BRINKMANN,
RAINER und NEBHUTH, RALF: Szenische Interpretation von Opern, Oldenburg 1988 (=
Oldenburger Vor-Drtucke 49/88)
DIESS.
u. STROH, WOLFGANG MARTIN: Szenische Interpretation von Opern. Band 1 bis 3,
Oldershausen 1990
NEBHUTH,
RALF u. STROH, WOLFGANG MARTIN: Szenische Interpretation von Opern - Wieder eine
neue Operndidaktik?, in: Musik und Bildung 1/1990
SCHELLER,
INGO: Erfahrungsbezogenen Unterricht, Künigstein/Ts. 1982
DERS.
zus. mit R. SCHUMACHER: Das szenische Spiel als Lernform in der Hauptschule,
Oldenburg 1984
DERS.:
Szenisches Spiel, in: Enzyklopädie Erziehungswissenschaften, Bd. 3, Stuttgart
1985
DERS.
zus. mit A. BARTELS: Das szenische Spiel als Lernform in der Sonderschule,
Oldenburg 1987
DERS.:
Wir machen unsere Inszenierung selber (I). Szenische Interpretation von
Dramentexten, Oldenburg 1989
SCHWARTING,
BERND u. STROH, WOLFGANG MARTIN: Das Erste improvisierende Streichorchester.
Eine Dokumentation, Oldenburg 1989
STROH,
WOLFGANG MARTIN: Szenisches Spiel im Musikunterricht, in: Musik und Bildung 2/88
DERS.:
Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenen Unterricht, in: Musikpädagogische
Forschung, Band 6, hg. von H.G. BASTIAN, Laaber 1985
DERS.:Scheitern
kann zum Durchbruch verhelfen. Projekt zur Erforschung neuer Motivationsformen für
den Instrumentalunterricht, in: Neue Musikzeitung 5/88, S.48
DERS.:
Von der Kindercombo zum Ersten improvisierenden Streichorchester, in: Einblicke
9. Forschung an der Universität Oldenburg, Oldenburg 1989 [1]
DERS.:
Musik in Neuem Geist, in: esotera 7/89, Freiburg 1989 [2]
DERS.:
Musik der Freiheit, in: esotera 10/89, Freiburg 1989 [3]
DERS.:
Zwischen Kagel und Roncalli. Fünf Jahre "Erstes improvisierendes
Streichorchester", in: Neue Musikzeitung 5/89, S.49 [4]
DERS.:
Brain & Body eine Musikperformance, in: V. KNIGGE und D. HOFFMANN (HG.): Das
neue Interesse an der Kultur, Oldenburg 1989 [5]
DERS.:
Musikalische Rebellion gegen Musikcomputer? Zur Begründung desMusikprojekts
"Brain & Body", in: Revue Contrechamps 11 - Musique
electroacoustiques, Genf 1989 [6]
DERS.:
Musik und die New-Age-Bewegung, in: Zeitschrift für Musikpädagogik, Heft 50,
Regensburg 1989 [7]
DERS.:
Musik und die New-Age-Bewegung, Teil II und III, in: Zeitschrift für Musikpädagogik,
Heft 51 und 52 fraglich, da diese Zs. eingestellt werden soll! o.O. 1990 [2]