100 Jahre Elektronische Musik

eine multimediale Lernumgebung

04. Paris (Musique Concrète) - USA (Experimental and Tape Music)

Die Themen der vorliegenden und der nächsten Stunde bilden das "Triumvirat" des "klassischen Zeitalters" der avantgardistischen Elektronischen Musik: die Pariser "Musique Concrète", die "Experimentelle und Tonband-Musik" aus US-Amerika und die Kölner Elektronische Schule. Als Erweiterung dieser letzt genannten Schule schließen sich dann in der übernächsten (sechsten) Stunde Arbeiten aus dem Mailänder Studio an. Damit ist der Ausgangspunkt des bis heute gültigen "Spektrums" der Elektronischen bzw. Elektroakustischen Musik fest gelegt. Ein qualitativer Sprung ereignete sich 1968 durch "Moog und die Folgen". Dies ist Thema ab der siebten Stunde.

Vorgehen in einer 90-Minuten-Einheit: Teil 1 "Musique Concrète" : Einführung (15 Minuten) - Einzelarbeit zur Ètude aux chemins de fer 1948 (15 Minuten) - Analyse (15 Minuten), Teil 2 "Experimental- und Tape Music": Einführung (10 Minuten) - drei Kleingruppen (20 Minuten) - Zusammenfassung (15 Minuten).

Materialien für beide Teile: PowerpointPräsentation PPt4 und Blatt 04 mit Dokumenten. (Die Arbeitsblätter sind auf beide Teile aufgeteilt.)


Teil 1.

Musique Concrète und Pierre Schaeffer

Stichworte:

Spezial Henry-Schaeffer "Orphée 53": Kurzversion Orphée 53 (1953), Remix zu Orphée 1990 durch Pierre Henry, Henry-Bejarts Ballett(musik) Orphée53 (Version 2018) als Playlist, Orphée 53 Uraufführungsmitschnitt, Gesamtdokumentation zu Orphée53 (pdf), "Skandal von Donaueschingen" - Diskussion in Melos 1954, Analyse von Barbara Fox 2005 mit sekundengenauer Beschreibung der Sound-Events.

Bis 1951 wird nur mit Schallplatten produziert (500 Samples auf Platten mit Endlosrille). Dazu gab es: Schellack-Rekorder, Mikrofon, Audiomixer, Hallgerät (Spiralen), Filter, „Lautsprecher-Rotator“. - Bilder auf der Ppt4!

Tonband-Eigenentwicklungen des Studios: Phonogène = Bandschleifen können von einer Klaviatur aus auf Tonköpfe unterschiedlicher Geschwindigkeit abgespielt werden (Springermaschine); Morphophone = Delays, Filter und Rückkopplung von eine Tonbandschleife mit 12 Tonköpfen zum Auf- und Abnehmen und Löschen; Pupitre d'espace or potentiomètre d'espace = Induktionsschleifen zur Steuerung von Klängen im Raum (zunächst zweidimensional). Bilder auf der Ppt4!

Noch heute wird Musique Concrète von der “Groupe de Recherches Musicales” GRM in eigenen Studios (mit neuen Technologien) weiter betrieben: https://inagrm.com/en.

Aufgabe für Einzelarbeit:

Hören Sie die "Ètude aux chemins de fer 1948" und bearbeiten Sie die Fragen von Arbeits- und Aufgabenblatt 04.

Lösung der Aufgabe:

Im folgenden Video werden die wichtigsten "Events" entlang einer Hüllkurve der Komposition gezeigt; in der darunter befindlichen Tabelle stehen alle Details.

Vergrößern Sie das Video auf HD (1280x720 pixel)!

deFer Analyse

Entgegen der vor allem in Deutschlkand verbreiteten Polemik gegenüber Pierre Schaeffer und der Musique Concrète (siehe Reaktion auf "Orphèe 53") sieht man bei genauerem Hinsehen, dass diese "Etüde" gut durch komponiert ist, motivische Arbeit und vieles mehr enthält.

DOKUMENTE zur Musique Concrète

Pierre Schaeffer: Das Missverständnis von Donaueschingen. In: Melos 1954, S, 139-140.
Heinrich Strobel erklärte: “Wenn die Techniker nur die Komponisten arbeiten ließen, dann ginge alles gut.“ Ich bin nicht der Ansicht Dr. Strobels. Zur Zeit, da sich diese Musik im Entwicklungsstadium befindet, ist ein Techniker (der ich ja bin) förderlicher als etwa ein genialer Komponist. Unser technisches Material muß noch während vieler Jahre fortlaufend verbessert werden. Und die Komponisten sind uns gegenwärtig nur dann von Nutzen, wenn sie – wie Pierre Henry – dazu bereit sind, drei oder vier Jahre lang Tag und Nacht in unseren Studios zu arbeiten.“
„Die beiden musikalischen Haltungen, die abstrakte und die konkrete, lassen sich in exaktem Vergleich einander gegenüber stellen. Wir wenden das Wort ‚abstrakt‘ auf die Musik im gewohnten Sinne an, weil sie zuerst eine geistige Schöpfung ist, dann theoretisch notiert wird und schließlich in einer Aufführung ihre praktische Realisierung erfährt. Unsere Musik haben wir ‚konkret‘ genannt, weil sie auf vorherbestehenden, entlehnten Elementen einerlei welchen Materials fußt und dann experimentell zusammengesetzt wird aufgrund einer unmittelbaren, nicht-theoretischen Konstruktion, die darauf abzielt, ein kompositorisches Vorhaben ohne Zuhilfenahme der gewohnten Notation zu realisieren.“ (Zitiert aus einem Artikel der Zs. „Polyphonie“ 12/1949,  in: Pierre Schaeffer. Musique Concrète. Klett, Stuttgart 1974, S.18.)

Pierre Schaeffers Systematik der musique concrète:

Ästhetik/Politik:

  • Der Begriff des Musikinstruments,
  • die hergebrachte Notation,
  • der Kunstwerkbegiff,
  • die traditionelle Beziehung Komponist-Ausführender-Publikum

... sind in Frage gestellt und müssen neu definiert werden!

Drei Postulate:

1. Vorrang des Ohres (Slogan: „konkrete“ und nicht „abstrakte“ Musik),
2. Bevorzugung der realen akustischen Quellen („jeder Umweltschall“ kann zu Musik werden),
3. Erforschung der Sprache und Klangobjekte.

Vorgehen beim Komponieren:

  • Sammeln des „konkreten“ Klangmaterials:
    • überwiegend Schallereignisse der Umwelt,
    • Stimm- und Sprachlaute,
    • „vorgefundene Musik“.
  • Technische Fixierung des Klangmaterials.
  • Wissenschaftliche Erforschung des Klangmaterials.
  • Technische Verarbeitung des Klangmaterials:
    • durch Veränderung des Klanges selbst (Klangfarbe),
    • durch Veränderung der Form des Klangobjekts,
    • Transposition.
  • Montage: Klangmaterial in Elementarbestandteile zerlegen, verändern und neu zusammensetzen.

 

Die 1948 zur Verfügung stehenden Geräte:

  • Mikrofone: Primäre Aufnahme-Tools,
  • Schellack Rekorder: stellte Platten mit Endlosrillen her → allgemeine Klangbibliothek.
  • Mischpult: mischt Schallquellen, sendet sie gegebenenfalls über “Effekte”  an den Rekorder und an einen Monitorlautsprecher.
  • Plattenspieler: Abspielen vorwärts, rückwärts, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, 
  • Mechanischer Hall: Platten oder (mehrere) Federn,
  • Filter: Hoch- und Tiefpassfilter (1/3 Oktav-Einteilung).

4. Daraus ergibt sich die für eine Musikstücke („spezifische“) Klangbibliothek.
5. Montage (Komposition): die Klangbibliothek „zerstückeln“, verändert neu zusammensetzen etc.

weiter zu Teil 2 "Experimental und Tape Music" (USA)