100 Jahre Elektronische Musik

eine multimediale Lernumgebung

03. Elektronische Musikinstrumente 1920-1945

Unter der Vielzahl der "elektrischen" Musikinstrumente, die in der ersten Hälfte des 20. Jahhrunderts gebaut worden sind, haben das Theremin, die Ondes Martenot und das Trautonium ihre Entstehungszeit überlebt und erfreuen sich heute, nachdem sie mehr oder weniger ohne Unterbrechung überwintert haben, wieder eines größeren Interesses. Alle Instrumente sind insofern "elektronisch" als sie mit Bauteilen der Radiotechnologie bestückt sind und im Falle von Theremin und Ondes Martenot auch mit "Ätherwellen" (also hochfrequenten elektromagnetischen Wellen) arbeiten. Interessant ist darüber hinaus, dass alle drei Instrumente bis in jüngste Zeit regional begrenzt sind: Theremin USA und bedingt Russland, Ondes Martenot Frankreich und Trautonium Deutschland. Interessant ist weiterhin, dass sich die "Elektronische Musik" der Zeit nach 1948 nicht für diese Instrumenten interessiert hat und sie weitgehend der Film- und Unterhaltungsmusik überlassen haben. (Ausnahmen bestätigen hier die Regel.)

Vorgehen in einer 90-Minuten-Einheit: Vortrag als Einführung (30 Minuten), drei Kleingruppen (30 Minuten), Diskussion der Kleingruppenergebnisse (30 Minuten). Die individuelle Bearbeitung von Textdokumenten kann als Hausaufgabe erledigt werden.


Einführung

Der erste Klangeindruck von den drei zur Diskussion stehenden Instrumenten in Aufnahmen aus der Entstehungszeit:

Zur weiter gehenden Einführung dient Blatt 03 in Verbindung mit der PowerpointPräsentation Ppt3, in die folgende Videos integriert sind.

Alle Videos befinden sich auf der Youtube-Playlist "EM2020 Instrumente".

Youtube-Link Die Tonerzeugung beim Theremin und der Ondes Martenot erfolgt mit der Methode eines hochfrequenten Schwebungssummers. Im Video wird dies Prinzip gezeigt.
Youtube-Link Moog hat 2015 ein Mini-Theremin heraus gebracht, das hier von mir vorgeführt wird.
Lydia Kavina hat mit diesen Worten auf der Frankfurter Musikmesse 1995 das Theremin vorgestellt.
Youtube-Link Das Trautonium wurde von Telefunken zunächst als "Volkstrautonium" konzipiert und sollte wie der Volksempfänger in jede gute Stube kommen...
Oskar Sala hat den kompletten Soundtrack des Filmes "Die Vögel" auf dem Mixturtrautonium realisiert. Im vorliegenden Audiobeispiel sind seine "Skizzen" dazu zuhören.
Youtube-Link Das Mixturtrautonium kann subharmonische Töne zu neuartigen, glockenähnlichen Klängen mischen. Im vorliegenden Video wird dies Prinzip erläutert.

BLatt 03:

1906 Telharmonium: elektromechanisch (kreisende Zahnräder), keine elektronische Klangerzeugung.
1920 Theremin: Prinzip des Schwebungssummers aus der Radiotechnik spieltechnisch umgebaut.
1928 Ondes Martenot: Weiterentwicklung des Theremins, Verwendung eines Widerstanddrahtes (gegebenefalls mit Hilfs-Tastatur) statt der „Handbewegungen“ beim Theremin.
1930 Trautonium: Tonerzeugung durch Kippschwingungen einer Röhre, Spieltechnik ähnlich Ondes Martenot, Klangmodifikation durch Filter (da Sägezahnschwingung)
1948 Mixturtrautonium: Trautonium Frequenzteilerschaltungen („Mixturen“) zur Erzeugung nicht-harmonischer Obertöne

Schwebungssummer

Kippschwingung (Röhre) + Filter

 

Theremin (1920)
einmalige Spieltechnik: „Musik und Bewegung“, Showeffekt, vokalartiger Klang, kaum genuine Musik;
USA: Filmmusik.
1928: 500 Geräte von RCA gebaut. 1960: Moog, 1997 Etherwave (MIDI), 2014 Moog-Theremini (Zusatzklangfarben). 2018 Francis-Bausatz. 2010 Theremin-technik als „Wavecontroler“.
Heute: Lydia Kavina.

Ondes Martenot (1928)
„Ribbon-“ und Keyboard-Spieltechnik, Einsatz als prägnantes Melodieinstrument in Kompositionen aus E-Musiksektor, nur in Frankreich.
Nur Einzelanfertigungen. Seit 2011 moderne Nachbauten durch Jean-Loup Dierstein.

Heute:  Thomas Bloch).

(Mixtur-)Trautonium (1930)
„Ribbon“-Spieltechnik. Klangmodifikation durch Filter, später „Mixturen“. Komponisten: Genzmer, Hindemith, Sala. Instrument von „Radiomusik“. Nach 1945 Filmmusiken Oskar Salas. Keine Verwendung im WDR („Elektronische Musik“ Kölner Schule)
300 „Volkstrautonium“  bei Telefunken. Mixtutrautonium als Unikat bei Sala, Transistor-Nachbau 1988 (FHS der Post/Berlin), 1995 als Software mit „Ribbon Control“ (Fa. Doepfer), 2010 „Trautoniks“ (Jürgen Hiller) baut das 1988er-Modell nach.
Heute:  Peter Pichler .

(Kleingruppenarbeit) Zu Beispielen der inzelnen Instrumente

Arbeit entlang des Arbeitsblattes 03:

Alle drei Gruppen hören jeweils drei Musikstücke und diskutieren folgende Fragen:
- Gibt es wesentliche musikalische Unterschiede zwischen den Stücken? Wenn ja, welche?
- Welchen Charakter hat die jeweilige „Performance“, d.h. die Präsentation des Instruments?
- Meinen Sie, dass das Instrument noch mehr hergeben könnte als das, was hier vorgeführt wird? Wenn ja, was könnte das sein?
- Was wollen Sie im Plenum vorspielen?
Notieren Sie einige Stichworte. Sie sollen anschließend im „Plenum“ 10 Minuten über Ihr Diskussionsergebnis berichten.

Gruppe 1: Theremin:

Leon Theremin „Playing his own instrument” (ohne Jahreszahl, ca. 1937)

Dr. Samuel Hoffmann: Demonstration des RCA-Theremins 1929 in der Jonny Carson-Show 1956

Régis Campo: “Dancefloor With Pulsing for Theremin and Orchestra” (9.11.2018, Brüssel)

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Gruppe 2: Ondes Martenot:

Olivier Messiaen: „Fête des Belles Eaux“ für Sechs Ondes Martenot 1937

Tristan Murail: „MACH 2,5“ für zwei Ondes Martenot 1971 (Info dazu)

Bernard Wisson: „Mais si, Robert“ 2011, interpretiert von Thomas Bloch

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Gruppe 3: Trautonium:

Paul Hindemith: „Des kleinen Elektromusikers Lieblinge“ für 3 Trautonien 1930, gespielt von Peter Pichler 2019 (die erste Komposition eines E-Komponisten für Trautonium)

Oskar Sala: Portrait 1993. Konzert 1991 in Osnabrück, Demonstration seines Mixturtrautoniums 1993, Ausschnitte aus der Filmmusik „Die Vögel“ 1963

Peter Pichler (2017): Ausschnitt aus der Live-Begleitung zum Film "A Voyage to the Moon" (1975) durch Peter Pichler und Jan Kahlert. Es handelt sich um einen ursprünglich von Oskar Sala komponierte Vertonung von Bildern der ersten Mondlandung.

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Dokumente

Leon Thermen und Lenin:
In the Soviet Union at that time everyone was interested in new things, in particular all the new uses of electricity: for agriculture, for mechanical uses, for transport, for communication. And so then, at that time, when everyone was interested in these fields, I decided to create a musical use for electricity. I made a few first apparatuses that were made [based on principles of] the human interference of radio waves in space, at first used in [electronic] security systems, then applied to musical purposes. There was a big electronics conference in Moscow, and I showed my instruments there. It made a big splash. It was written up in the literature and the newspapers, of which we had many at that time, and many doors were opened [for me then] in the Soviet Union. And so Vladimir Il’yich Lenin wanted to get acquainted with it himself. So they asked me to come with my apparatus, with my musical instrument, to his office, to show him.
I brought my apparatus and set it up in his large office in the Kremlin. About an hour and a half later Vladimir Il’yich Lenin came with those people with whom he had been in conference in the Kremlin. I played a piece [of music]. After I played the piece they applauded, including Vladimir Il’yich [Lenin], who had been watching very attentively during my playing.
I played Glinka’s “Skylark”, which he loved very much, and Vladimir Il’yich said, after all this applause, that I should show him, and he would try himself to play it. He stood up, moved to the instrument, stretched his hands out, left and right: right to the pitch and left to the volume. I took his hands from behind and helped him. He started to play “Skylark”. He had a very good ear, and he felt where to move his hands to get the sound: to lower them or to raise them. In the middle of this piece I thought that he could himself, independently, move his hands. So I took my hands off of his, and he completed the whole thing independently, by himself, with great success and with great applause following. He was very happy that he could play on this instrument all by himself.
(Gespräch mit Leon Thermen am 16.6.1989, https://www.thereminvox.com/story/495/)

Edgar Varèse (1883-1965): Vorträge (1916/1936). In: Musik-Konzepte Heft 6, edition text + kritik München 1978.
Varèse komponierte 1932-34 ein „interkulturelles“ Stück für diverse Instrumente, u.a. Ondes Martenot und Theremin, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ecuatorial.
„Unser musikalisches Denken muß erweitert werden. Wir haben neue Instrumente bitter nötig... In meinen eigenen Werken fühlte ich stets die Notwendigkeit neuer Ausdrucksmedien ..., die sich jedem Ausdruck des Denkens fügen und mit dem Denken Schritt halten können.“ (1916)
„Ich persönlich benötige für meine Konzeptionen ein völlig neues Ausdrucksmittel: ein Klang produzierendes Gerät - nicht ein Klang reproduzierendes. Es ist heute möglich, ein solches Gerät mit einer gar nicht so großen Menge von zusätzlichen Forschungen zu bauen. Das wird etwa so funktionieren: nachdem ein Komponist mit Hilfe einer neuen grafischen Notation seine Partitur niedergeschrieben hat, wird er dann in Zusammenarbeit mit einem Toningenieur die Partitur direkt in dieses elektrische Gerät übertragen. Danach wird jeder fähig sein, auf den Knopf zu drücken, um die Musik herauszulassen, genauso wie sie der Komponist geschrieben hat - genauso wie man ein Buch öffnet....“ (1936)

Jürgen Hiller 1998 (im Handbuch seines Trautonium-Nachbaus 1998):
Die Metallschiene (1), welche die Saite aufnimmt ist so gelagert, daß sie beim Druck auf die Saite nach unten nachgeben kann. Dadurch wird ein unter der Metallschiene befestigter Metallstreifen aus einem Behälter, der mit Glyzerin gefüllt ist, gedrückt. Das Ganze arbeitet wie ein veränderbarer Flüssigwiderstand (3). Je mehr der Metallstreifen auf den Glyzerinbehälter gedrückt wird, um so leichter kann der Strom seinen Weg zum Verstärker gehen, was gleichbedeutend mit einer Erhöhung des Signalpegels ist. Die Charakteristik dieser Widerstandsänderung konnte bislang elektronisch nicht  zufriedenstellend nachgebildet werden. (2) sind mit Leder überzogene Spielhilfen („Tasten“).

trautonium

Herbert Eimert zum Trautonium im WDR-Studio (Brief an Wilhelm Maler vom 27. April 1953. Privatbesitz von Dorothea Eimert)
Friedrich Trautwein hat Anfang der 1950er Jahre für das Elektronische Studio des WDR in Köln ein Trautonium gebaut. "Mit dem Trautoniumbau für uns gab es endlose Schwierigkeiten; schliesslich wurde das halbfertige Instrument ins Funkhaus geholt - es war nichts davon brauchbar. Unter Leitung unseres Ingenieurs F. Enkel wurde dann hier ein völlig neues Instrument gebaut: es heisst auch nicht mehr Trautonium, sondern 'Klangerzeuger', mit dem Zusatz: 'mit Verwendung Trautweinscher Patente'. Dieses Instrument ist nach meinen Intentionen so eingerichtet, daß es nicht im Sinne von Sala und Genzmer virtuos gespielt werden kann, sondern nur der Klangerzeugung dient."
Mehr zum Trautonium im Kölner Studio: https://www.youtube.com/watch?v=nxHyeUGogR0

 “Radiotheorie” (Brecht, Bejamin)

Zum Verständnis der “Aufbruchstimmung” vor 1933 auch unter Musikern und Musiktechnikern hier einige Zitate zur Diskussion um die gesellschaftliche Funktion des Radios:

Albert Einstein: Rede zur Eröffnung der Deutschen Funkausstellung in Berlin 1930: „Die Techniker machen erst die wahre Demokratie möglich. [...] Rundfunk hat eine einzigartige Funktion zu erfüllen: die Völkerversöhnung.“

Bertold Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (1932): „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde,nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zusetzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. Deshalb sind alle Bestrebungen des Rundfunks, öffentlichen Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit zu verleihen, absolut positiv. [...] Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur die natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.”

Walter Bejamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936): “Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kustwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag”.

Anmerkung Stroh: der Rundfunk lege das “Gewicht”  von Musik auf ihren “Ausstellungswert” [heute als das “Primat der Präsentation gegenüber dem Inhalt” geläufig], was eine neue Funktion bedeute, derzufolge der “Kunstcharakter” von Musik nur noch “beiläufig” sei. Bekannt ist Benjamins Spruch: “im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit verliert Kunst ihre Aura”.