Vortrag im Rahmen des Oldenburger Komponisten-Colloquiums am 19.6.2015
In Oldenburg bin ich seit 1978 im Rahmen der Apparativen Musikpraxis Schwerpunkt experimentelle Musik und Musikprogrammierung tätig. In diesem Zusammenhang entstanden mehrere künstlerisch-wissenschaftliche Forschungsprojekte, die alle der Kategorie "Live Elektronik" zuzuordnen sind. Forschungsfragen sind: Mensch-Maschine-Interaktion, Improvisation mit Computer, Algorithmisches Komponieren, Microtuning. Das Wesentliche dieser Projekte ist, dass die Produktionen sich im kommerziellen Musikbetrieb bewähren müssen. Keine Laborproduktionen, kein Sponsoring, keine Drittmittel. Beispiel Microtune-Programme für die Firma Geerdes (Berlin), Programmtester für den Lugert-Verlag, Brain & Body mit 39 Auftritten auf Festivals und in Clubs auf, 75 Kompositionsaufträge und 27 Konzerte fürs MIDI-Planetarium, oder zwischen 1998 und 2003 pro Semester eine Rave-Party des TechnoMuseums. Keine Vorführung gleicht der anderen, jedes Event wird neu generiert, ich als "Komponist" schaffe keine Werke sondern Ideen und Materialien für Aktionen und wirke bei der Aufführung mit.
Im heutigen Colloquium versuche ich einen Eindruck von den elektronischen Klängen zu geben, die aus einigen dieser Projekte hervorgegangen sind.
Gustavo Becerra-Schmidt hat die "Balistoccata" 1982 als Reaktion auf den Militärputsch 1973 in Chile komponiert und Fred Ritzel gewidmet. Der Putsch hatte aus Becerra-Schmidt einen Exilanten gemacht. Das Stück existiert in 4 Fassungen: (Original-)Fassung 1für Klavier, Fassung 2 von Becerra-Schmidt für Midiklavier, Fassung 3 (1983) Midiversion elektronisch im Korg MS10 verfremdet von Wolfgang Martin Stroh, Fassung 4 (2010) im Nordlead die Fassung 3 neu bearbeitet und mit Samples gemischt. Im vorliegenden Video hört man zunächst die Original-Version gespielt von Ljuba Markova, anschließend die 1979 entstandene Verfremdung durch den Synthesizer Korg MS 20, und abschließend eine Neubearbeitung mittels des Moduls "Nordlead", bei der die in der Klavierkomposition eingearbeiteten chilenischen Protestlieder explizit als Samples zu hören sind. Die Version für Midiklavier aus dem Jahr 1983 ist insofern ein Novum, als Becerra-Schmidt mittels eines aus Israel importierten Notationsprogramms überhaupt eine midifizierte Version seiner zunächst von Hand gezeichneten Partitur erstellen konnte. Man erinnere sich: Midi wurde im August 1982 "erfunden" bzw. zur internationalen Norm erklärt. Die Midi-Version erlaubte es, die Virtuosität des Stücks nochmals etwas zu steigern. Zwischen Fassung 2 und 4 besteht ein qualitativer Unterschied: Da der Korg MS 20 ja ein rein analoger Synthis ist, wurde in der Fassung 3 die Audioversion des Stücks (die auch von Hand hätte gespielt werden können) analog verarbeitet, d.h. überwiegend durch Filter und Übersteuerungen moduliert. Bei der Fassung 4 wurde der midifizierte Soundmodul "Nordlead" verwendet, sodass jetzt die Mididaten die synthetischen Klänge triggern konnten.
Im Bad verteilt befinden sich verschiedene "Sensoren", deren Funktonsweise darin besteht, dass die Besucher durch "Bewässerung" derselben einen Kurzschluss auslösen konnten, der wiederum einen elektronischen Klang triggert. Der jeweils ausglöst Klang wurde über einen an einer anderen Stelöle im Raum aufgestellten Lautsprecher wiedergegeben. Die Besucher konnten auf einem Blatt, das sich mit "Musikalitätstest" bezeichnete, angeben, welcher "Sensor" welchen Lautsprecher triggert. Diese Aufgabe war deshalb nicht ganz einfach, weil es im Bad relativ laut war und meist mehrere "Sensoren"/Lautsprecher gleichzeitig aktiv waren. Der Test wurde von mir ausgewertet und die Ergebnisse in meinem Buch "Leben Ja. Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit" (1984) ausgewertet. Die Aktion wurde als Beweis für die irrationale Testgläubigkeit von Normalbürgern" und die Ideo,ogie des Begriffs "Musikalität"gewertet. In musikalischer Hinsicht jedoch handelte es sich um eine allgemein akzeptierte elektronische und interaktive Rauminstallation. IM Bild sieht man die zum Einsatz gebrachten Synthesizer: 2 SynthiA von EMS (heute mit extremem Kultstatus) und die komplette Korg MS-Serie mit alanogem Synthi, Sequenzer und Vocoder.
(Es steht hier kein Video bzw. mp3-File zur Verfügung.)
In den Hochzeiten des Atari ST als Musikcomputer habe ich viel mit den musikalischen und gestaltpsychologischen Effekten von Algorithmen experimentiert. Im Gegensatz zur überzüchtenen "Formalzed Music" eines Iannis Xenakis waren meine Algorithmen stets einfach, musikalisch durchsichtig und von Laien (vor allem auch Schüler/innen) navh zu vollziehen. In zwei Lehrbüchern "MIDI-Experimente und Algorithmisches Komponieren" (1990 und 1991) habe ich viele schultaugliche Experimente vorgestellt - und auch über Praxiserfahrungen publiziert.
Dies erst Video zeigt an einem harmlosen Beispiel die musikalisch Potenz von "algorithmischem Komponieren". Zum Tragen kommt ein simpler Zufallsalgorithmus, der pro Takt (mit je 8 Achteln) einen von 6 Percussionsklängen zufallsbedingt verändert. Auf den Zentral-Beats (1. und 5. Achtel) bleiben BD und SN unverändert. Faktisch werden die GM-Zahlen der auf jeder Soundcard enthaltene Percussionsklänge bei jedem Takt zufallsbedingt um eins erhöht. Das Ergebnis dieses denkbar einfachen. Dennoch bietet dieser Algorithmus einen interessanten minimalistischen und gestaltpsychologisch wirksamen Effekt. Im Video wird die Realisierung dieser Idee aus dem Jahr 1990 auf einem Atari ST gezeigt. Weitere Anwendungen algorithmischen Komponierens: im nächsten Video der Playlist sowie in der Dokumentation eines Konzertes "Fractal Music" auf https://www.musik-for.uni-oldenburg.de/fractalmusic/.
Weitere Bilder, Audios und Erklärungen zum Technomuseum hier!
Das MIDI-Planetarium ist ein 1991 von Wolfgang Martin Stroh entwickeltes Tool (Computerprogramm) zur musikalischen Darstellung von Sternenkonstellationen. Wie in einem (optischen) Planetarium scannt das Programm den Sternenhimmel und transformiert die Positionen der Gestirne in Töne. Konkret erzeugt das Programm eine musikalisch geordnete Abfolge von MIDI-Daten, die von einem Musiker live in Klänge umgesetzt werden können. Ist der Zeitpunkt und Ort des Geschehens (dies kann Zeitpunkt und Ort eines Konzerts oder eines besonderen Events wie der Geburt eines Menschen [="Geburtshoroskop"] sein) fest gelegt, so steht die Abfolge der MIDI-Daten fest und läuft deterministisch ab. Bei der Gestaltung der Klänge jedoch hat der Musiker freie Wahl und kann die Musik spontan zum Beispiel in Improvisationen anderer Musik einbetten. Der Umsetzung der Stern-Positionen in Töne liegt die holistische Theorie der "Harmonie der Welt" von Pythagoras, Johannes Kepler und Hans Cousto zugrunde. Danach können periodische Vorgänge im Kosmos (also vor allem reale oder scheinbare Bewegungen von Sternen) durch "Oktavierung" in Bereiche der erlebbaren Rhythmen, der hörbaren Tonfrequenzen oder der sichtbaren Lichtfrequenzen überführt werden. Bezogen auf unser Planetensystem kann damit jedem Planeten ein Rhythmus, eine Tonhöhe und eine monochrome Farbe zugeordnet werden (= Theorie der "Planetentöne" nach Hans Cousto). Das Programm "MIDI-Planetarium" bewegt sich vorzugsweise durch die Ekliptik, kommt an den einschlägigen Gestirnen vorbei und "spielt" deren Töne und Rhythmen. In jedem Augenblick eines Spielvorganges wird die Entfernung zu allen Gestirnen gemessen und als Oberton des entsprechenden Grundtons des Gestirns ausgedrückt. Dadurch ergibt sich ein komplexes Spiel von Obertönen aller Grundtöne der auf der Ekliptik befindlichen Gestirne. In jedem Augenblick des Programmablaufs ist auf diese Weise ein "Bild" der gesamten Sternenkonstellation präsent, auch wenn dies vom Hörer nicht "durchschaut" werden kann. In der inzwischen 29-jährigen Praxis (mit über 60 Kompositionsaufträgen und 32 Konzerten ) haben sich drei besonders prägnante Settings entwickelt: (1) "Geburtshoroskop": verwendet werden die Gestirne entlang der Ekliptik und deren Position von der Erde aus betrachtet zum Zeitpunkt und vom Ort aus der Geburt eines Menschen. Hierzu wurde ein breit angelegtes Forschungsprojekt durchgeführt. (2) Das "Konzertante MIDI-Planetarium": verwendet werden die Gestirne entlang der Ekliptik und deren Position von der Erde aus betrachtet zum Zeitpunkt und vom Ort aus eines Konzertes, bei dem neben den elektronisch erzeugten Klängen auch Musiker mit akustischen Instrumenten (z.B. ein Obertonmusiker) mitwirken. (3) "Ambient Music": das MIDI-Planetarium bespielt im Sinne von ambient music einen Raum aufgrund von Daten, die eine Bedeutung für diesen Raum haben. Im vorliegenden Video: Zunächst der Sonnenton nach Cousto, sodann der Mitschnitt aus einer Aufführung über und unter Wasser in Bad Sulza im Sinne der "Ambient Music". Auf dem folgenden Video 13 der Playlist sieht man einen Mitschnitt des Konzerts eines "Konzertanten MIDI-Planetariums".
Ausführliche Information zum Projekt unter https://www.musik-for.uni-oldenburg.de/planet.
Ein weiteres Video zum MIDI-Planetarium !
Das Musikstück "Bagdad 1991" ist anlässlich des Einmarsches der US-Truppen im Irak am 17.1.1991 entstanden. Es zieht eine Parallel zwischen dem Strahlentodtango der Anti-AKW-Bewegung und den Äußerungen von Soldaten anlässlich dieses Einmarsches. Zum Schluss wird eine Parallele zwischen diesem US-Einmarsch und dem aktuellen Wüten des Islamischen Staates gezogen. Musikalisch wird zwischen dem temperierten System einen einem persischen Datstagha gewechselt.
Weitere elektronische Musik-Video sind unter "Playlist Elektronische Musik made in Oldenburg" zu finden.
Unter anderem auch e-Beat (hier weitere e-Beats)
GMD steht für Gertrud Meyer-Denkmann (1918-2014), eine herausragende experimentelle Musikern, die hier einem Flügel live-elektronische Klänge entlockt. Mitschnitt einer Show der Oldenburger Medienmusikpraxis 2005 mit der 87-jährigen Künstlerin. Das Konzept ist stark von John Cage und dessen "Medienkompositionen" sowie den Ideen zum präparierten Klavier beeinflusst. Als "elektroakustische Musik" würde aber solch eine Performance heute kaum mehr durchgehen, weil die akustischen Klänge "nur" elektronisch verfremdet werden, hinter dieser Klangverarbeitung aber kein (kompositorisches) Konzept zu erkennen ist. Das vorliegende Video als Hommage a GMD könnte jedoch durchaus als "elektroakustische Musik" durchgehen, weil in ihm Videoclips verschiedener Aktionen an einem Tag der Offenen Tür zur Medienkunst miteinander akustisch und visuell verbunden, mit assoziativen Samples klassischer Klaviermusik unterlegt und letztendlich auf die Performance von GMD bezogen worden sind.